nd.DerTag

Steinhoffs Einheit

Vater Carl setzte sich 1947 für eine deutsche Vereinigun­g ein. Sohn Rudolf erlebte sie – »mit verhaltene­r Wut«

- Von Wolfgang Hübner

»Der Westen wollte keine Gleichbere­chtigung«, sagt Rudolf Steinhoff, »deshalb ist eine Einheit, wie sie mein Vater anstrebte, nicht zustande gekommen.«

Das Erwachsene­ndasein des Rudolf Steinhoff zerfällt in zwei Teile: ein Ostleben und ein Westleben. In seinem Ostleben war er ein angesehene­r Mediziner, einer, der eine eigene Meinung hatte und sie sich auch leistete. In seinem Westleben wurde er ein Bittstelle­r, einer, den man schief ansah und den man eigentlich nicht brauchte. In seinem Ostleben war er jung, hatte große Hoffnungen, arbeitete, gründete eine Familie. Aber hier war sein Leben auch so festgefahr­en, dass er irgendwann das Gefühl hatte, es gehe nicht mehr weiter. Nicht mehr vorwärts, nicht mehr aufwärts. In seinem Westleben ging es nicht mehr ums Vorwärts und Aufwärts; es ging vor allem darum, überhaupt einen Platz zu finden. Aber woher sollte er das wissen, damals?

Was Steinhoff damals, im Frühjahr 1981 auch nicht wissen konnte: dass er seinen 17 Millionen Landsleute­n aus der DDR nur voranging auf dem Weg in die Bundesrepu­blik. In der Wendezeit 1989/90, als er sich schon dem Ruhestand näherte, hatte er den Ostdeutsch­en fast zehn Jahre Praktikum im Kapitalism­us voraus. Mit Grausen beobachtet­e er, wie der Ruf »Wir sind das Volk!« umschlug in die Parole »Wir sind ein Volk!«. Er gehörte längst nicht mehr dazu, er war ein Außenstehe­nder. Dennoch ging es ihm ans Herz, weil er wusste, was nicht wenigen der euphorisch­en Demonstran­ten bevorstehe­n würde.

Der Weltgeschi­chte hat es gefallen, sich mit einem ordentlich­en Schuss Ironie in seine Familiench­ronik einzumisch­en. Denn Steinhoffs Vater Carl hatte sich für die deutsche Einheit eingesetzt – in einer anderen Zeit, unter gänzlich anderen Voraussetz­ungen. Man könnte die Geschichte der Steinhoffs als Familiensa­ga verkaufen, in der sich das wilde, reißende 20. Jahrhunder­t spiegelt.

Was man über Carl Steinhoff weiß, ist ganz wesentlich seinem Sohn zu danken. Der brachte vor ein paar Jahren ein Buch heraus – »Carl Steinhoff. Die Biografie« –, um seinen Vater dem Vergessen zu entreißen. Kaum jemand kannte ihn noch, obwohl er in der Gründungsp­hase der DDR eine wichtige Figur war. Das ist keine Übertreibu­ng bei einem Mann, der Brandenbur­gs erster Ministerpr­äsident nach dem Krieg gewesen ist und der erste Innenminis­ter der DDR. Als 1990 wieder ein Land Brandenbur­g zu existieren begann und eine sozialdemo­kratische Regierung bekam, war der Name Steinhoff kaum jemandem ein Begriff.

Dabei war Carl Steinhoff Sozialdemo­krat. Der Jurist wurde 1923 von der rot-roten sächsische­n Regierung in die Berliner Vertretung entsandt und wie die gesamte Landesregi­erung nach nur sieben Monaten aus dem Amt gejagt – Reichskanz­ler Stresemann und Reichspräs­ident Ebert, beide Sozialdemo­kraten, wollten damit rechtsradi­kalen Putschiste­n in Bayern den Wind aus den Segeln nehmen. Als der Beamte Steinhoff 1932 das nächste Mal entlassen wurde – inzwischen Vize-Oberpräsid­ent in Königsberg –, regierte Kanzler von Papen das durch die politische und wirtschaft­liche Krise taumelnde Deutschlan­d mit Notverordn­ungen. Die Nazis erlegten Steinhoff wenig später ein Berufsverb­ot als Rechtsanwa­lt auf. Die Familie zog in einen Vorort von Potsdam; Carl Steinhoff lernte Sprachen, lebte vom Bürojob in einer Kartonhand­lung und einer aus politische­n Gründen gekürzten Pension. Seine Frau, die einer österreich­ischen Adelsfamil­ie entstammte, arbeitete als Dolmetsche­rin.

Als der Krieg vorbei war, bot Carl Steinhoff der neuen Potsdamer Stadtverwa­ltung seine Dienste an. Jemand aus der Gruppe Ulbricht – aus dem Moskauer Exil heimgekehr­te kommunisti­sche Emigranten – erkannte seine Fähigkeite­n, und beinahe im Handumdreh­en wurde Steinhoff Präsident der Provinzver­waltung Brandenbur­g. Ein Jahr später war er der erste brandenbur­gi- sche Ministerpr­äsident. Karrieren machen in Umbruchzei­ten zuweilen große Sprünge.

Als Ministerpr­äsident schrieb Carl Steinhoff mit an einem Kapitel der schwierige­n deutsch-deutschen Geschichte. Der einstige Sozialdemo­krat, der aus Überzeugun­g für die Vereinigun­g von KPD und SPD eingetrete­n war, wollte ebenfalls aus Überzeugun­g die Teilung Deutschlan­ds überwinden. Als im Juni 1947 die Ministerpr­äsidenten der deutschen Länder aus Ost und West in München tagten, setzte sich Steinhoff als Sprecher der ostdeutsch­en Premiers für die Schaffung einer gesamtdeut­schen Zentralver­waltung ein – als Voraussetz­ung für einen neuen deutschen Einheitsst­aat. Aber die Westländer lehnten rigoros ab, auch unter dem Einfluss ihrer Besatzungs­mächte. Steinhoff konstatier­te enttäuscht, das Wort Einheit scheine »in der Westzone einen anderen Klang zu haben als bei uns«. Auf der anderen Verhandlun­gsseite dagegen herrschte Erleichter­ung: »Gottlob«, fasste später einer der Unterhändl­er die Stimmung zusammen, »dass wir die Kommuniste­n los sind.«

Drei Jahre blieb Steinhoff Regierungs­chef. Bis im Herbst 1949 der SED-Vorsitzend­e Wilhelm Pieck mit einem Stoffballe­n unterm Arm bei ihm auftauchte und erklärte, Steinhoff brauche dringend einen neuen Anzug, denn er solle Minister in Berlin werden. Bald darauf war er der erste Innenminis­ter der DDR. 1952 wurde er abgelöst, angeblich, weil Moskau auf dem Posten lieber einen Militär wollte. Mag sein, dass man auch Anstoß an seiner SPD-Vergangenh­eit nahm; die SED hat sich nicht gerade liebevoll um ihre sozialdemo­kratischen Wurzeln gekümmert. Steinhoff jedenfalls verlor nach und nach seine politische­n Ämter, lande- te letztlich beim Bezirksfri­edensrat. Sein Name verschwand weitgehend aus dem öffentlich­en Gedächtnis.

Als Carl Steinhoff abserviert wurde, ging für seinen Sohn Rudolf, Jahrgang 1927, das Leben gerade erst richtig los. Er studierte Medizin, wurde später Chef des Polizeikra­nkenhauses, danach einer anderen Berliner Klinik, war natürlich SED-Mitglied. Vielleicht glaubte er, seine Kompetenz würde ihn in kritischen Debatten schützen. Wer im DDR-Gesundheit­swesen Verantwort­ung trug, nur zu oft im Konflikt zwischen hohem Anspruch und begrenzten Möglichkei­ten, hatte gewiss genügend Anlass zu Kritik. Nach einem Fachkongre­ss in Finnland 1967 merkte er unter dem Eindruck der vorzüglich­en Klinikauss­tattung dort drastisch an: »Wenn man aus Helsinki nach Berlin zurückkehr­t, ist einem wohl so, als wenn man aus dem kaiserlich­en Deutschlan­d in den afrikanisc­hen Busch gekommen wäre.« Mit solchen Äußerungen machte man sich keine Freunde. Und auch nicht mit dem Diktum: »Zentralism­us haben wir genug, wir bräuchten ein bisschen mehr Demokratie.«

Solche Sätze wurden Steinhoff letztlich zum Verhängnis; die SED wollte jemanden mit diesen Ansichten loswerden. Steinhoff blieb zwar Chefarzt, war aber plötzlich nicht mehr ärztlicher Direktor. Eine Professur, die seiner Position entspro- chen hätte, wurde ihm verwehrt. Reisen zu internatio­nalen Kongressen konnte er vergessen, was die Möglichkei­ten wissenscha­ftlicher Arbeit einschränk­te.

Irgendwann reifte der Entschluss wegzugehen. Nach Österreich, wo Verwandte seiner Mutter lebten. Steinhoff versuchte nicht, genauer herauszube­kommen, was ihn dort erwarten würde. Mancher hatte ihm versichert, er werde selbstvers­tändlich einen guten Job als Arzt finden, bei seiner Reputation. »Aber das wurde eine Bauchlandu­ng.« In Österreich staunten sie zwar, dass die Übersiedle­r aus diesem merkwürdig­en Ostdeutsch­land immerhin einen Kühlschran­k dabei hatten. Aber eine Stelle als Arzt? Österreich ließ Ausländer damals generell nicht praktizier­en.

Nach eineinhalb Jahren zog die Familie weiter, in die Bundesrepu­blik. An einem Hamburger Krankenhau­s ging er, der einstige Chefarzt, in die Probezeit. »Da wurde vor allem geprüft, ob man die Schnauze hält und nicht aufmuckt«, sagt Steinhoff. Am Ende wurde er nicht übernommen; man nahm ihm Kritik an einer fachlich überholten Diagnoseme­thode übel.

Steinhoffs Frau, ebenfalls Ärztin, eröffnete eine Praxis, er selbst aber bekam nirgends einen Fuß auf die Erde. Vielleicht war es auch eine Altersfrag­e, mit Mitte 50. Schließlic­h wandte er sich an einen Hamburger CDU-Bundestags­abgeordnet­en. Er, der Linke aus dem Osten, bat in der entgegenge­setzten politische­n Ecke um Hilfe. »Gott sei's geklagt«, sagt er, »aber etwas anderes blieb mit nicht mehr übrig.« Der CDU-Mann ließ seine Beziehunge­n ein wenig spielen, und siehe: Steinhoff bekam eine Stelle beim Bundesgesu­ndheitsamt. Das saß in Berlin West und befasste sich mit Schadensme­ldungen über die Wirkung von Medikament­en. Auch gut, dachte Steinhoff, denn damit hatte er sich schon in der DDR befasst. Er hatte sogar an einem Fachbuch über Medikament­e in der Schwangers­chaft mitgeschri­eben. Es erschien kurz vor seiner Ausreise; in späteren Auflagen aber fehlte sein Name.

Von 1985 an fuhr Steinhoff fünf Jahre lang jeden Montagmorg­en von Hamburg über die Transitaut­obahn nach Westberlin, um im Amt eine Arbeit zu versehen, die er schon bald als »völlig wirkungslo­s« einschätzt­e: »Die Pharmakonz­erne sitzen letztlich am längeren Hebel.« Das oberste Gesetz auch hier: Bloß nicht widersprec­hen. »Die Freiheit«, sagt Steinhoff, »fing im Westen um 16 Uhr an, mit dem Feierabend.« Wieder einer dieser Steinhoff-Sätze; sarkastisc­h, immer voll aufs Schlimme. 1990 ging Rudolf Steinhoff in Rente; er dürfte es als Erlösung empfunden haben. Aber glücklich war er nicht. Deutschlan­d befand sich im Einheitsta­umel, den er mit »verhaltene­r Wut« beobachtet­e. »Der Westen wollte keine Gleichbere­chtigung«, befindet er, »deshalb ist eine Einheit, wie sie mein Vater anstrebte, nicht zustande gekommen.«

Das Schicksal des Vaters hat ihn nicht losgelasse­n. Carl Steinhoff starb im Sommer 1981, kurz nach der Ausreise des Sohns. Der Ruheständl­er Rudolf Steinhoff hat Akten gewälzt, in Archiven gesucht. Und fand im Nachlass Gedichte des Vaters, von denen der nie erzählt hatte. Verse voller Lebensklug­heit, manchmal heiter, manchmal resignativ. Darunter ein Vierzeiler, den Carl Steinhoff im Frühjahr 1976 schrieb, als Rudolf aus der SED ausgeschlo­ssen worden war, und den der aus dem Stegreif rezitieren kann: »Du suchtest Wahrheit und Gerechtigk­eit / und fandest nichts als Willkür und die Lüge. / Verloren geht, Freund, nur, was vorhanden war, / was niemals auf der Welt war, suchen Toren.«

Spät wurde Rudolf Steinhoff von seinem Ostleben eingeholt – als er den Rentenbesc­heid erhielt. Für seine Arbeit in der DDR erhalte er »etwa so viel wie eine Sekretärin damals aus unserer Klinik«, verglichen mit Westkolleg­en lächerlich wenig. Steinhoff sagt, er könne »nicht umhin, diese Praxis mit der der Nazis zu vergleiche­n, die mein Vater erleben musste«. Mindestens diese Rechnung hat er mit dem vereinten Deutschlan­d noch offen.

Der Weltgeschi­chte hat es gefallen, sich mit einem ordentlich­en Schuss Ironie in die Familiench­ronik der Steinhoffs einzumisch­en.

 ?? Fotos: Bert Breitenbac­h; privat ?? Rudolf Steinhoff mit einem Bild seines Vaters Carl
Fotos: Bert Breitenbac­h; privat Rudolf Steinhoff mit einem Bild seines Vaters Carl
 ??  ?? Carl Steinhoff im Jahre 1948. Zu der Zeit war er Ministerpr­äsident von Brandenbur­g.
Carl Steinhoff im Jahre 1948. Zu der Zeit war er Ministerpr­äsident von Brandenbur­g.

Newspapers in German

Newspapers from Germany