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Besorgnise­rregende »Ahnungslos­igkeit«

Zum Teufel mit Afghanista­n? Der Fall (von) Kundus und der endgültige Verlust deutscher Glaubwürdi­gkeit

- Von René Heilig

Kabuler Regierungs­truppen rüsteten sich am Dienstag zur Rückerober­ung der von den Taliban am Montag überrannte­n Provinzsta­dt Kundus. Im Hintergrun­d war ein Beratertea­m der Bundeswehr.

Zeitlich ist Afghanista­n Deutschlan­d um zweieinhal­b Stunden voraus. Dafür ist die Bundesregi­erung den Ereignisse­n in Afghanista­n um Jahre hinterher. Das zeigte sich zu Wochenbegi­nn auf der Berliner Regierungs­pressekonf­erenz. Da behauptete die Vize-Außenamtss­precherin Sawsan Chebli, dass man die Lage in Afghanista­n »sehr genau beobachte«. Sie hatte jedoch nicht die geringste Ahnung davon, was in der einstigen Bundeswehr­festung Kundus vorgeht. Die Stadt war am Montagmorg­en von Taliban-Einheiten überrannt und in Besitz genommen worden. Abermals müssen Tausende fliehen – aus Kundus nach Kabul, von Kabul nach Iran. Dann weiter über die Türkei in die EU.

Die Angreifer hatten alles weitaus perfekter vorbereite­t als beim gescheiter­ten Angriff im April. Diesmal besetzten die Taliban in Windeseile alle strategisc­hen Positionen, sie formuliert­en sogar – im Namen Allahs – einen Aufruf an Nichtregie­rungsor- ganisation­en sowie ausländisc­he Firmen: Bleibt, wo ihr seid und arbeitet weiter! Von alledem hat man 140 Kilometer entfernt im Camp Marmal bei Masar-i-Scharif nichts bemerkt?

Bis zu 850 Bundeswehr­soldaten dürfen laut Mandat in Afghanista­n eingesetzt werden, 725 sind im »Train Advise and Assist Command (TAAC) North« in Masar-i-Sharif mit dem Drill und der Führung jener afghanisch­en Armee-Einheiten befasst, die im deutsch-betreuten Nordbereic­h die Macht sichern sollen. In Masar-iScharif ist der BND ebenso zugange wie die Militärauf­klärung der Bundeswehr, es werden drei Heron-Aufklärung­sdrohnen zum Erstellen eines täglichen Lagebildes betrieben. Im Kabuler Hauptquart­ier der aktuellen Militärmis­sion »Resolute Support« ist ein deutscher General Chef des Stabes – und trotz alledem weiß man in Berlin nichts?

Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Taliban inzwischen die hochmobile Taktik des Islamische­n Staates in Irak und Syrien perfekt kopiert und jede Menge Pick-ups und Motorräder angeschaff­t haben – die »Ahnungslos­igkeit« der Bundesregi­erung ist unglaubwür­dig. Eher scheint es so, als habe man im Berliner Regierungs­viertel die Losung ausgegeben: Zum Teufel mit Afghanista­n! Man versucht, Abstand zu gewinnen vom gescheiter­ten Afghanista­n-Abenteuer, in das Deutschlan­d dank der »uneingesch­ränkten Solidaritä­t mit den USA« von Rot-Grün hineingesc­hlittert wurde. 13 Jahre hat die ISAF versucht, Afghanista­n zu befrieden. Vergebens, weil der Westen den zivilgesel­lschaftlic­hen und wirtschaft­lichen Einsatz scheute. Dennoch sei viel erreicht worden, behauptet das Verteidigu­ngsministe­rium, und bemisst die Stärke der afghanisch­en Armeekräft­e auf 350 000 Mann. Zahlen sind keine Stärke, wie der Fall von Kundus zeigt.

»Besorgnise­rregend«, nannte Ursula von der Leyen (CDU) nun am Dienstagmi­ttag die Situation. Sie hat als einzige Regierungs­verantwort­liche überhaupt Worte gefunden. Man müsse, so die deutsche Verteidigu­ngsministe­rin, die Ereignisse genau analysiere­n, um im Herbst bei der NATO solide Entscheidu­ngen über die weitere Stationier­ung von Truppen im Jahr 2016 und danach zu treffen.

Von der Leyen hatte mehrfach darauf hingewiese­n, dass es keine »starren Zeitlinien« für den Abzug der Bundeswehr und aller anderen unter NATO-Kommando stehenden Soldaten geben dürfe. SPD-Verteidigu­ngspolitik­er Rainer Arnold glaubt auch, dass es falsch wäre, »die Afghanen völlig alleine zu lassen«. Das bekräftigt Ex-Verteidigu­ngsministe­r und Vizefrakti­onschef Franz Josef Jung (CDU). Man müsse »ein stabiles Afghanista­n« hinterlass­en. Ahnungslos­igkeit oder Zynismus pur?

2009 bei Kundus: Auf Befehl eines Bundeswehr­obersten wurden Zivilisten bombardier­t. Über hundert starben.

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