Vereinte Punks der Arbeitswelt
Vor 150 Jahren wurde die erste deutsche Gewerkschaft gegründet
Zigarrendreher gründeten 1865 in Leipzig die erste deutsche Gewerkschaft. Mit einigen der damaligen Themen müssen sich ihre Nachfolger 150 Jahre später noch immer herumschlagen.
Rote Hosen, gelbe Westen, verwegenes Äußeres: Zigarrendreher stachen vor 150 Jahren aus der Masse der arbeitenden Bevölkerung heraus. »Sie waren die Punks der 1840er Jahre«, sagt Willi Burschak vom DGB Sachsen. Zugleich verfügten sie über ausgeprägtes politisches Bewusstsein und kämpferischen Geist. Zu Weihnachten 1865 gründeten Beschäftigte der Branche in Leipzig den »Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiterverein«, der bald mehr als 10 000 Mitglieder hatte.
Der Zusammenschluss war damit »die erste deutsche Gewerkschaft«, sagt Michaela Rosenberger, die als Chefin der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) gewissermaßen das Erbe verwaltet. Ihre 150jährige Tradition würdigt die NGG gerade mit einer historischen Konferenz und im November mit einem Festakt in Leipzig. Absprechen lässt sie sich die Vorreiterrolle auch von anderen Arbeitnehmervertretern nicht. Die Lokführer reklamieren zwar für sich, die ersten gewesen zu sein. »Die kamen aber erst 1867«, sagt Rosenberger. Außerdem seien Bahnbeschäftigte damals eher staatstragend gewesen; die organisierten Zigarrenarbeiter »haben dagegen ihr Leben riskiert«.
Artikuliert wurden Forderungen, die ironischerweise zu Teilen weiter aktuell sind. Ein wichtiger Punkt war etwa der »Kost- und Logiszwang«: Die Arbeiter hatten Abgaben für Unterkunft und Verpflegung zu leisten, die ihre mageren Löhne zum Gutteil auffraßen. Bei Saisonarbeitern oder bei ausländischen Beschäftigten in der Fleischwirtschaft gebe es ähnliche Regelungen bis heute, sagt Rosenberger. Auch die Frage der Arbeitszeit blieb über 150 Jahre brisant. Ihre Verlängerung durch die Hintertür streben Arbeitgebern derzeit an, um den Mindestlohn auszuhebeln.
Dieser sei eine Erfolgsgeschichte, heißt es bei der NGG; Studien zufolge profitiert jeder zweite Beschäftigte des Gastgewerbes von der Lohnuntergrenze. Rosenberger fürchtet aber, dass die Regelung unterlaufen wird und Verstöße nicht ausreichend kontrolliert werden. Zuständig für die Kontrollen sind statt der »Finanzkontrolle Schwarzarbeit« die Länder. »Das hat aber schon in der Vergan- genheit nicht geklappt«, sagt die Chefin der NGG. Auf deren Engagement bauen immer mehr Beschäftigte der Branche: Die Zahl der Mitglieder in Sachsen stieg innerhalb des letzten Jahrzehnts um zwölf Prozent.
Bei der Konferenz geht es um derlei aktuelle Entwicklungen der Branche; gewürdigt werden aber auch historische Vorbilder, allen voran Friedrich Wilhelm Fritzsche, der den Cigarrenarbeiterverein ins Leben rief. Der 1825 geborene Leipziger, ein uneheliches Kind mit lediglich gut sechs Monaten Schulbildung, hatte 1849 schon in Dresden auf der Barrikade gestanden und dafür in Haft gesessen, bevor er erst des Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) – einen Vorläufer der SPD – mit aus der Taufe hob und danach auch die Gewerkschaft. Später saß er im Reichstag, wurde zum viel gelesenen Arbeiterdichter – und zum Hassobjekt der Justiz, weswegen er schließlich in die USA emigrierte. Dort starb er 1905. In Leipzig erinnert derzeit nichts mehr an Fritzsche. Sachsens DGB wünscht sich deshalb wenigstens eine Tafel an einem seiner früheren Wohnhäuser – um eines Typen zu gedenken, wie er heute fast unvorstellbar ist: ein Punk – und Gewerkschafter.