Polnisch-russischer Geschichtsstreit
Anlass war das Abtragen des Denkmals für Sowjetgeneral Tschernjachowski
Wieder einmal schlagen die Wellen zwischen Warschau und Moskau hoch, wieder geht es um die Sicht auf den Zweiten Weltkrieg.
Am Schluss erwies sich Russlands Botschafter in Polen als Diplomat bester Schule. Sergej Andrejew erklärte in Warschau, Polen und Russland hätten eine unterschiedliche Sicht auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, sollten somit die Empfindlichkeiten der anderen Seite strikt beachten.
In der letzten Woche hatte Andrejew allerdings Öl ins Feuer gegossen, als er in einem Interview mit einer polnischen Fernsehstation meinte, Polen habe Mitverantwortung getragen am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Polens Politik, so führte er aus, habe zur Katastrophe vom September 1939 geführt, weil das Land sich mehrmals der Schaffung einer gegen Deutschland gerichteten Koalition widersetzt habe. Die Besetzung der Osthälfte Polens am 17. September 1939 sei lediglich die Konsequenz gewesen, da die Sicherheit der UdSSR gesichert werden musste.
Auf scharfe Reaktionen in Warschau über alle Parteilager hinweg musste nicht lange gewartet werden. Ministerpräsidentin Ewa Kopacz bemerkte ironisch, dass die Außenminister der Sowjetunion und Deutschlands, Wjatscheslaw Molotow und Joachim von Ribbentrop keine Polen gewesen seien. ExStaatspräsident Aleksander Kwaśniewski ordnete den Auftritt des russischen Diplomaten ein in eine Rei- he von Aktionen, durch die der Kreml den Westen überzeugen wolle, dass Polens heutiges Verhältnis zum Zweiten Weltkrieg vor allem durch Obsessionen geprägt sei.
Kein anderes Geschichtsthema ist in den Beziehungen zwischen Polen und Russland so umstritten wie der Zweite Weltkrieg. Zuletzt hatten die neuen Diskussionen in der Ukraine, die im Kern die Zeit des Zweiten
Sergej Andrejew, Botschafter Weltkriegs auf heutigem ukrainischem Gebiet betreffen, dem Streit neue Nahrung gegeben.
Die nunmehrige offizielle ukrainische Sicht steht zu manchem quer, was in Polen tiefe Überzeugung ist. Doch fühlt sich Moskau ungleich stärker düpiert, wenn Kiew den Großen Vaterländischen Krieg nun in die allgemeine Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hineinschiebt. Insbesondere die Zeit von August 1939 bis Juni 1941, die für die Westukraine von besonderer Bedeutung ist, stellt eine geschichtspolitische Herausforderung für Moskau dar, nicht aber für Warschau.
Unmittelbarer Anlass für den neuen Geschichtsstreit ist aber eine Provinzposse, die wiederum kein gutes Zeugnis für heutige Zeiten ausstellt. In Pieniężno, dem früheren Mehl- sack in Ostpreußen, stand bislang ein in den 70er Jahren errichtetes Denkmal für General Iwan Tschernjachowski. Der Befehlshaber der 3. Belorussischen Front kam hier im Februar 1945 bei einem Granatenangriff ums Leben. Umstritten in Polen ist er seit jeher. Bei der Eroberung von Vilnius war auf die Unterstützung von Einheiten der polnischen Armia Krajowa angewiesen, ließ sie aber nach der Einnahme der Stadt entwaffnen. Die Soldaten kamen in Gefangenschaft, die oft genug den Tod verhieß. Beigesetzt wurde Tschernjachowski in Vilnius. Nach Litauens Unabhängigkeit kamen die sterblichen Überreste nach Moskau.
Am 17. September 2015 wurde das Denkmal in Pieniężno auf Beschluss der örtlichen Volksvertreter und mit dem Segen der zentralen IPN-Behörde abgetragen. Angeboten wurde der russischen Seite, es kostenfrei ins Kaliningrader Gebiet transportieren zu lassen oder der russischen Botschaft zu übergeben. Aus dem russischen Außenministerium kam prompt die Frage, ob Polen weiter einer konjunkturellen Geschichtsinterpretation folgen wolle.
Adam Rotfeld, ehemaliger Außenminister Polens und Ko-Vorsitzender der Polnisch-Russischen Gruppe für Schwierige Angelegenheiten, verwies auf den erfolgreichen Weg, der 2010 zur polnischrussischen Publikation »Weiße Felder, schwarze Felder« über die schwierigen Fragen in den beiderseitigen Beziehungen nach 1918 geführt habe. Es gelte nun wieder, die Interpretation der konfliktreichen gemeinsamen Geschichte den Historikern zu überlassen.
»Polen und Russland haben eine unterschiedliche Sicht auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges.«