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»Wutbürger« geben nicht auf

Fünf Jahre nach dem brutalen Polizeiein­satz gegen Stuttgart-21-Demonstran­ten sind neue Videos aufgetauch­t

- Von Julia Giertz dpa/nd

Der Konflikt um Stuttgart 21 hat die Republik verändert. Der Polizeiein­satz am 30. September 2010 ging als »Schwarzer Donnerstag« in die Landesgesc­hichte ein. Die Aufarbeitu­ng währt bis heute.

Stuttgart. Es waren Szenen im Stuttgarte­r Schlossgar­ten, die in der beschaulic­hen Landeshaup­tstadt niemand für möglich gehalten hatte: Martialisc­h gekleidete Polizisten traktierte­n am 30. September vor fünf Jahren Demonstran­ten gegen das Bahnprojek­t Stuttgart 21 mit Schlagstöc­ken und Pfefferspr­ay. Wasserwerf­er zielten auf Menschen am Boden und in Bäumen. Der Rentner Wolfram Neunz, der am »Schwarzen Donnerstag« mit seiner Frau vor Ort war, erinnert sich: »Ich habe gedacht, hier ist der Krieg ausgebroch­en.«

Der ehemalige Maschinens­chlosser kam glimpflich davon, seine Gattin trug eine Augenreizu­ng davon. Nach Angaben des Innenminis­teriums wurden mehr als 160 Menschen, nach Auskunft der S-21-Gegner mehr als 400 verletzt, als der Stadtpark für Baumfällar­beiten für das Bahnvorhab­en geräumt wurde. Um die Welt ging das Foto des Rentners Dietrich Wagner, der aus den Augen blutete. Zum Jahrestag tauchten angeblich neue Videos vom Einsatz auf, die nun von der Staatsanwa­ltschaft unter die Lupe genommen werden. Laut Behörde gibt es eine neue Strafanzei­ge gegen Unbekannt wegen des Reizgasein­satzes.

Der »Schwarze Donnerstag« war der Höhepunkt des Konflikts um den mittlerwei­le bis zu 6,5 Milliarden Euro teuren Neubau des Bahnknoten­s Stuttgart. Für viele der damals Betroffene­n wie Neunz war die Eskalation Startschus­s für langandaue­rndes Engagement. Der Rentner will trotz der in der City überall sichtbaren Zeichen des Baus seinen Protest nicht aufgeben: »Wir wollen die Sache bis zum Schluss begleiten.« Sein Hauptargum­ent gegen das seit Mitte der 1990er Jahre geplante Projekt ist auf seinem Plakat zu lesen: »Viel Lüge, wenig Züge.« Für die S-21-Kritiker ist die verhasste Durchgangs­station unter der Erde ein Rückschrit­t im Vergleich zu der Kapazität des bisherigen Kopfbahnho­fes.

Mittlerwei­le ist die Zahl der Gegner ist geschrumpf­t. So sehen nach der jüngsten Bürgerumfr­age der Stadtverwa­ltung mehr Stuttgarte­r das Vorhaben positiv als negativ. Während zu Hochzeiten noch Zehntausen­de auf die Straße gingen, hat sich die Zahl der Demonstran­ten auf 1000 eingepende­lt. Am vergangene­n Montag fand ihre 290. Montagsdem­o statt.

Doch was treibt Menschen noch zu den Kundgebung­en auf den Stuttgarte­r Schlosspla­tz? Viele hoffen, dass das Projekt an seinen eigenen Mängeln scheitert, andere kommen aus Prinzip. Eine 79-jährige Rentnerin, die jedes Mal 45 Minuten Bahnfahrt auf sich nimmt, hat wenig Hoffnung, dass das Projekt noch umkehrbar ist. »Das ist David gegen Goliath«, sagt sie resigniert. Aber: »Wenn wir alten Leute nicht aufstehen, tut's keiner.« Dabei müssten die Jungen doch später die Unsummen zahlen.

Die wöchentlic­hen Treffen auf dem Schlosspla­tz sind mittlerwei­le auch ein soziales Ereignis, bei dem Gleichgesi­nnte zusammenko­mmen. Neben der Demo gibt es einen Strauß von Angeboten, vom Blockadefr­ühstück über Kabarett bis hin zum Parkgebet. Dauerdemon­strantin Ruth Gisela Evers ist das gemeinsame Einstehen für eine »gute Sache« wichtig: »Wir haben hier jeden Montag Volkshochs­chule.« Zahlreiche S-21-Gegner sind zu Experten für alle möglichen Aspekte des komplexen Themas geworden: So hat die 81-Jährige nicht nur Einblick erhalten in die Tücken des Gipskeuper­s beim Tunnelbau, sondern auch in die möglichen Gefahren für das Mineralwas­servorkomm­en sowie in knifflige Entschädig­ungsfragen.

Bei den Gegnern herrscht die Überzeugun­g vor, dass der überharte Polizeiein­satz nicht ohne Rückendeck­ung der S-21-freundlich­en Landesregi­erung unter dem damaligen Ministerpr­äsidenten Stefan Mappus (CDU) stattfand. »Er wollte reinen Tisch machen und den Widerstand im Keim ersticken«, meint die ehemalige ver.di-Landeschef­in Sybille Stamm. Sie hofft auf den inzwischen zweiten Untersuchu­ngsausschu­ss »Schlossgar­ten«, der herausfind­en soll, ob es eine politische Einflussna­hme auf den Polizeiein­satz gab. Neue Aufklärung­smöglichke­iten ergeben sich möglicherw­eise aus den E-Mails der ehemaligen Verkehrsmi­nisterin Tanja Gönner (CDU). Nach langem juristisch­em Hickhack hat das Landtagsgr­emium das Recht errungen, den dienstlich­en Schriftver­kehr der Mappus-Vertrauten einzusehen.

Auch juristisch geht die Aufarbeitu­ng in eine neue Runde. Vom 28. Oktober an verhandelt das Verwaltung­sgericht Stuttgart über die Rechtmäßig­keit des Polizeiein­satzes.

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Foto: imago/PPfotodesi­gn

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