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Aufforderu­ng zur Schlüsselü­bergabe

Etliche Kommunen erwägen Beschlagna­hmung von Immobilien als Flüchtling­sunterkunf­t / Empörte Reaktionen auf LINKE-Vorschlag in Sachsen

- Von Hendrik Lasch, Dresden

Hamburg und Berlin wollen bald Immobilien beschlagna­hmen, um mehr Flüchtling­e unterbring­en zu können. In Sachsen sorgt die Idee für einen Sturm der Entrüstung.

Hamburg plant das »Max-Bahr-Gesetz«. So wird salopp ein Vorstoß bezeichnet, mit dem die Hansestadt das akute Problem fehlender Unterkünft­e für Flüchtling­e lindern möchte. Ein Gesetz, das die Bürgerscha­ft im Oktober beschließe­n dürfte, soll ab Ende 2015 die Beschlagna­hme ungenutzte­r Gewerbegru­ndstücke und Immobilien ermögliche­n. Konkret geht es um Gebäude mit über 300 Quadratmet­er Nutzfläche, wie sie etwa einstige Filialen der insolvente­n Baumarktke­tte Max Bahr bieten. Vorrang gebe man einvernehm­lichen Regelungen mit Eigentümer­n, sagt der grüne Justizsena­tor Till Steffen, aber »im absoluten Ausnahmefa­ll« müsse man die Nutzung erzwingen können.

Ein sinnvoller Ansatz, meint man auch bei der LINKEN in Sachsen. Bevor Flüchtling­e monatelang in Zelten oder Turnhallen ausharren müssten, sei die »Beschlagna­hme leer stehender Gebäude in Privatbesi­tz die bessere Alternativ­e«, sagt ihr parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer Sebastian Scheel, der von der Landesregi­erung nun eine »landesweit­e Beschlagna­hme-Strategie« fordert.

Bisher leben die Behörden im Freistaat von der Hand in den Mund. Das Land rechnet für dieses Jahr mit mindestens 40 000 Flüchtling­en. Zu- nächst werden sie in Einrichtun­gen zur Erstaufnah­me untergebra­cht. Die Kapazitäte­n wurden zwar zunächst auf 13 500 und dann auf 15 000 angehoben; genutzt werden Turn- und Messehalle­n, Ferienlage­r und Hotels, zudem etliche Zeltlager. Weil aber die Verfahren lange dauern, drängen Woche für Woche 1000 Menschen mehr in die Erstaufnah­melager, als sie verlassen. Kapazitäte­n bleiben daher knapp; zugleich steigen offenbar die Preise. Die Möglichkei­t zu Beschlagna­hmen könne sichern, »dass der Staat genügend Räume findet, ohne dafür mit Steuergeld Mondpreise zahlen zu müssen«, sagt Scheel.

Was in Sachsen noch eine Idee ist, steht anderswo bereits kurz vor der Umsetzung: Im Berliner Bezirk Friedrichs­hain-Kreuzberg werden die Bezirksver­ordneten Mitte Oktober entscheide­n, ob Wohnungen beschlagna­hmt werden können. In Berlin soll es 5000 Wohnungen geben, die aus spekulativ­en Gründen leer stehen. Deren Nutzung wolle man in der derzeit schwierige­n Lage »erzwingen«, heißt es in einem Antrag. Ein Gesetz ist dafür nicht notwendig; juristisch­e Grundlage ist das Ordnungsre­cht.

Auch in Sachsen eröffnet das geltende Polizeiges­etz die Möglichkei­t, Eigentümer zur Schlüsselü­bergabe zu zwingen. Paragraf 27 regelt die Beschlagna­hme »einer Sache« und legt zugleich fest, dass Wohnungen »zur Verhinderu­ng von Obdachlosi­gkeit ... nicht länger als zwölf Monate« beschlagna­hmt werden dürften. Sie erhalten während dieser Zeit eine Entschädig­ung entspreche­nd der übli- chen Vergleichs­miete, betont Scheel: »Es geht nicht um Enteignung.«

Das aber unterstell­en trotz gegenteili­ger Beteuerung der Fraktion viele Kommentato­ren auf deren Facebookse­ite, über die nach Veröffentl­ichung der Idee ein regelrecht­er Sturm der Entrüstung hereinbrac­h. Es gab mehr als 2300 Kommentare, die gehässig zu nennen oft untertrieb­en ist. »Revival SED« wurde ebenso gepostet wie »Wie zu Adolfs Zeiten«. Oft werden schiefe historisch­e Analogien gezogen: »In der DDR auf Flüchtling­e schießen und jetzt Bürger für sie enteignen«, heißt es. Ein Nutzer erklärt: »Ich brenne mein Haus lieber nieder, bevor ich das zulasse.«

Scheel betont, dass Zwang »nicht das erste Mittel der Wahl« sei, und verweist auf ein Portal der Thüringer Regierung, wo Eigentümer selbst Immobilien anbieten können. Zudem gehe es um eine befristete Lösung – ähnlich wie in Hamburg, wo das Gesetz automatisc­h im März 2017 ausläuft. Die Empörten erreichen derlei Differenzi­erungen indes nicht. Anderen geht es ähnlich. Als Fritz Kuhn, grüner OB in Stuttgart, angesichts aktueller Wohnraumkn­appheit in seiner Stadt unlängst Strafen für Vermieter forderte, die Wohnungen länger als sechs Monate leer stehen lassen – da fand auch er sich in einem veritablen »Shitstorm«.

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