»Nicht heulen. Schreiben.«
Doris Dörrie sieht Literaten als »Diebe und Vampire«
Das Bild auf dem Buchumschlag lockt: »Ruby throated hummingbird« von Cecilia Stevens. Nur zehn Seiten und man darf ein riesiges Obstbuffet bestaunen, »eingerahmt von Blumensträußen, vor denen Kolibris zitternd in der Luft standen«.
Der Mann, der Alice in das Luxushotel in Mexiko eingeladen hatte, Dermatologe, siebzehn Jahre älter und verheiratet, war an diesem Morgen müde oder schlecht gelaunt. »Ab und zu, meist aus heiterem Himmel, liebte er mich so, wie ich es mir immer erträumt hatte, und danach litt ich wochenlang darunter, dass es nicht mehr so war.« In diesem Satz steckt schon die ganze vertrackte Liebesgeschichte; da fragt man sich, wie Doris Dörrie noch 200 Seiten damit füllen will.
Welches Jongleurkunststück da vorgeführt wird, man merkt es nicht gleich. Womöglich wird es erst im dritten Teil des Buches deutlich, als die Ich-Erzählerin, Alice Hofmann, inzwischen eine arrivierte Schriftstellerin, wieder in Mexiko zu Gast ist. Weniger komfortabel untergebracht, zusammen mit weiteren Autorenkollegen (was Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb gestattet) und gerade wieder in Liebesdingen unglücklich geworden. Ihr Mann hatte sie einer Jüngeren wegen verlassen, wohingegen der Geliebte von damals in den Schoß seiner Familie zurückgekehrt war. Unglückliche Beziehungen – eigentlich zieht sich dieses Motiv durch den ganzen Roman.
Schreiben, um das Unglück loszuwerden – das wollte Alice schon als Studentin in den ersten beiden Teilen des Buches, aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Was sie später als lästig erleben würde, die Bewunderung durch Anfänger im Literaturbetrieb, damit hängte sie sich damals an die »Meisterin«. Dass eine etablierte US-Schriftstellerin mit ihr im selben Hotel wohnte, das junge Mädchen erhoffte sich davon eine Chance. Wenn sie ihr näher käme, dieser selbstbewussten Frau, die sich täglich zu selben Stunde vom Pool in ihr Zimmer zum Schreiben zurückzog, dann würde sie vielleicht erfahren, wie sie ihren Lebenstraum verwirklichen könnte. Aber es kommt nur zu kurzen Begegnungen. Was besonders enttäuschend ist, als Alice im zweiten Teil des Buches nach San Francisco reist, weil sie eine vage Einladung durch die »Meisterin« ernst genommen hat.
Immerhin, sie trifft dort wieder einen Mann (unglücklicher Ausgang, natürlich) und bekommt ein neues Buch der »Meisterin« in die Hand. Da- rin findet sie eine abenteuerliche Geschichte, die sie damals in Mexiko zunächst mit ihr zusammen erlebte und über deren dramatischen Fortgang sie brieflich berichtet hatte. Aber die Erzählung ist ohne jeden Hinweis auf ihre Person ...
Schriftsteller als Diebe und Vampire, zudem durch Schreibblockaden und Angst vor Misserfolgen geplagt – die inzwischen auch schon bejahrte Alice Hofmann spiegelt sich in der inzwischen verstorbenen »Meisterin«. Vor allem aber ist ihr noch gut die eigene unsicheren Jungmädchenfrage in Erinnerung. »Lohnt es sich wirklich?« Denn inzwischen weiß sie, was sie dem Schreiben alles geopfert hat. »Ich habe Angst, mir ein zweites Leben zu erfinden, über dem ich mein erstes verpasse, weil ich zu viel Angst davor habe«, hatte sie damals überlegt. Aber nun lässt sich nichts mehr rückgängig machen.
Unter ihrem leichten, unterhaltsamen Stil scheint Doris Dörrie auch manch eigene Beschwernisse und Zweifel versteckt zu haben. Und die bleiben, auch wenn sie ihre Alice vor Studenten in Mexiko einen grandiosen Lobgesang auf das Abenteuer der Schriftstellerei anstimmen lässt. »Nicht heulen. Schreiben ... Nicht denken, sondern den Gedanken zuschauen ... In den tiefen Dschungel vordringen, wo nie gesehene Pflanzen wuchern und unbekannte Tiere umherstreifen …« Vier atemlos formulierte Seiten, die erklären, wie Schreiben zur Obsession werden kann.
»Ein Schriftsteller lebt zweimal.« – Ein Satz, der das Publikum begeistert, an den Alice Hofmann inzwischen aber selber nicht mehr glaubt.