Entdeckung eines Bekannten
»Sterne glühn« – Hans-Eckardt Wenzel hat Gedichte von Johannes R. Becher vertont
Im Roman »Abschied« von Johannes R. Becher (1891–1958) gibt es eine Stelle, wo der IchErzähler »das Jüdlein« um Rat fragt, weil er nicht mehr weiter weiß. Das Alter Ego des Johannes R. Becher, Hans Peter Gastl, offenbart seinem Klassenkameraden Löwenstein, »dem Jüdlein«, folgendes: »Ich kann nicht weiterleben so. Ich will nicht mehr. In welch eine Zeit bin ich geraten! Strammstehen, nur strammstehen. Vor anderer Leute Gemeinheiten und vor der eigenen Gemeinheit. Nein – ich bin allein zu schwach, um standzuhalten. Dazu reicht meine Kraft nicht. Inmitten einer großen Lüge lebte ich, und geschickt fängt es die Lüge an, wenn ich versuche, aus ihr herauszufinden, mich immer tiefer in sie zu verstricken ... Du, sag mir, an was man sich halten kann?« Und das »Jüdlein« erklärt ihm Klassenkampf, Sozialismus und eben die Hoffnung auf »Die – menschliche – Gesellschaft«.
»Abschied« hatte Becher unter dem Eindruck kaum aushaltbarer Konflikte im Persönlichen wie im Politischen 1940 im Moskauer Exil fertiggestellt, allerdings mit einer kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorverlegten Handlung, schwankend zwischen Selbstmord und der großen Hoffnung auf das »Anderswerden«. 1940 steht Becher der weitere Selbstmordversuch in Moskau noch bevor, den er kurz nach dem Misslingen in einem reumütigen Brief an das Zentralkomitee der KPD vom 16. September 1942 zutiefst bedauert und versichert, »daß sich ein derartiger Fall nicht mehr wiederholen wird«. Mit der Sache des Kommunismus habe diese unbedachte Handlungsweise nichts zu tun, versucht Becher in seinem Brief deutlich zu machen: »Ich spüre die Kraft in mir, alle Aufgaben, die mir der Kampf und die Partei stellt, zu erfüllen.«
Bei Johannes R. Becher war es immer wieder dieser Glaube an »die Kraft des Kommunismus, in der Kri- tik des Scheins Glauben ohne Lüge freizumachen«, wie es ein so kritischer Kopf wie Ernst Bloch in »Das Prinzip Hoffnung« formulierte und auch für sich selber reklamierte. Das »Anderswerden« ist zeitlebens das beherrschende Thema bei Becher. Wie aus dem Erlebten neue Erkenntnis formuliert und zur Tat gebracht werden sollte, das wollte er für sich und andere erklären, immer wieder auch in seinen zahlreichen Gedichten.
Mit harmonischen Akkorden sei das jedoch nicht zu leisten: »Der Dichter meidet strahlende Akkorde. / Er stößt durch Tuben, peitscht die Trommel schrill. / ... / O Trinität des Werks: Erlebnis Formulierung Tat. / ... / Der neue, der Heilige Staat / ... / Restlos sei er gestaltet. / ...«, so kommt er uns in seinem Gedicht »Vorbereitung«, das in einem der wichtigsten Zeugnisse des Expressionismus, nämlich in dem Band »Menschheitsdämmerung« aus dem Jahre 1919, veröffentlicht wurde.
Doch es bleibt stets ein Rest. Das bleibt auch so, als Becher im Sonett mit fast Hegelscher Strenge die Form für sein Anliegen gefunden zu haben glaubt – Lösung von Widersprüchen auf jeweils höherer Stufe.
Vielleicht war es dieser auch bei der Person Becher nicht erklärbare Rest, warum wir als Philosophiestudenten der 1970er Jahre mit Interesse auch seine Gedichte lasen. Der »Barbarenzug« war dabei: »Ich sah – ich sah sie kommen, die Barbaren! / Sie kamen nicht aus einem Urwald her ...«. Aber auch: »Ich liebe dich, weil du mich hart bewachst. / Ich liebe dich, weil du mich besser machst.« Schließlich lasen wir die in »Sinn und Form« veröffentlichten Aufzeichnungen Bechers mit der Erwartung, Erklärung für Widersprüchliches zu finden. Alles sollte zwar erklärlich sein, ohne Rest, aber eben nicht so langweilig und apodiktisch wie in den Lehrbüchern dieser Jahre.
Warum nun gerade diese »Denkdichtung in Prosa« des expressionistischen und sozialistischen Lyrikers, des staatssozialistischen Gebrauchsdichters, des Verfassers des Romans »Abschied«, des kommunistischen Funktionärs und Antifaschisten und Verfassers der DDR-Nationalhymne Johannes R. Becher das Nachdenken über den Kontrast zwischen offiziellen Verkündigungen und der als sehr unvollkommen empfundenen Gesellschaft beförderte, das ist wohl heute kaum zu verstehen.
Die damalige Wirkung der Texte muss mit der rätselhaften Aura Bechers zu tun gehabt haben, der vielleicht wie kaum ein anderer in einer Person die Widersprüche dieses 20. Jahrhundert mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen, neuen Wahrheiten und Lügen, Aufbrüchen und Katastrophen, Unterwerfungen und Widerspenstigkeiten verkörperte. Vielleicht war es auch das Geheimnisvolle, wenn die große, aber auch abstrakte, Aufgabe »Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt« von einer so zerrissenen Persönlichkeit wie Becher gedichtet wurde. Vielleicht geht richtiges Leben so, dass es immer auch mit dem falschen zu tun bekommt.
Und noch ein Vielleicht: Letzteres spielte vielleicht bei Hans-Eckhardt Wenzel (geb. 1955) eine Rolle, der jetzt eine neue Platte mit von ihm vertonten Gedichten unter dem Titel »Sterne glühn – Wenzel singt Johannes R. Becher« herausbrachte. Fast möchte man ausrufen, dass auf eine solche Idee bloß Wenzel kommen kann. Und: Nur gut, dass er diese Idee hatte und von 2006 bis 2015 insge- samt dreizehn Lieder mit Thommy Krawallo und Hannes Scheffler sowie Stefan Dohanetz produzierte.
Wenzels Kompositionen gehen ins Ohr, berühren und verstören gelegentlich. Sie regen an. Ob die Musik nun zum »Barbarenzug« regelrecht dröhnt und rockt oder »Ich liebe dich« anrührend vertont ist, Wenzels Kompositionen finden zu einer Symbiose mit der Wortgewalt von Becher, in der sich pralles Leben und Verunsicherung ausdrücken. Und dann auch diese irren Texte wie »Gott suchend oder verschlungene Wege« und »Kino«, die Wenzel zu Collagen verdichtet hat. Das sind übrigens Texte, von denen sich Becher zuerst distanzierte und im Alter bemerkte, dass sie doch bleiben sollten und die von ihm »entwickelte tiefsinnige Korrektur-Ideologie« nichts mit einer »Art der Selbstkritik und eine Arbeit an sich selber« zu tun hatte.
Einige propagandistische Zeitgeistgedichte hätte er besser nicht schreiben sollen, wie er selber immer wieder einmal in seinen Aufzeichnungen eingestand. Keinen Kulturminister auf dem Sockel, aber auch keinen ins Gestern Verdammten finden wir auf der CD.
Nicht viel vom Vielschreiber Becher passt auf eine Platte, aber diese Wenzel-Becher-CD macht neugierig auf den ganzen Johannes R. Becher. Am Resultat kaum zu merken, welche intellektuelle Anstrengung dahinterstecken muss. Denn Becher auf diese Art, mit hohem Unterhaltungswert, ins Heute zu holen, darf wohl nicht als die leichteste Aufgabe angesehen werden. Wenzel kann das. Wenzel ist Theoretiker. Wenzel ist der lebende Beweis dafür, dass »Theorie« kein Schimpfwort sein muss.
Man kann es auch so sagen: Erst wer Marx, Hegel und Kant verstanden hat, Bloch und Benjamin auch mal dagegensetzt, kann sich von schwerfälliger Sprache der Welterklärer lösen und mit klugen eigenen und fremden Texten trotzdem Klärendes zur Lage in der Welt beitragen und dabei noch gut unterhalten.
Die theoretische Vorarbeit ist unbemerkt, aber nur durch sie, da bin ich mir sicher, konnte diese neue, wieder einmal eine ganz andere, ausgezeichnete Wenzel-Platte entstehen. So wie Wenzel hier mit Becher kommt, ist der Eindruck wohl nicht falsch, dass manche Texte auch von ihm sein könnten. Wir kennen dieses Gefühl bereits, wenn Wenzel in Konzerten neben eigenen Texten auch solche von Theodor Kramer, Christoph Hein oder Woody Guthrie bringt.
Wenn von einer rundum gelungenen Platte gesprochen werden kann, dann muss unbedingt noch die Hülle erwähnt werden. Diesmal kein Johannes Heisig (geb. 1953) auf der Wenzel-Platte, sondern ein frühes Werk des Malers Hubertus Giebe (geb. 1953) mit diesem damals im Westen und heute vielleicht überall seltsam anmutenden Realismus. Zu sehen ist ein Weg zwischen Mauern, der nicht bloß die Richtung vorgibt, sondern auch noch am Ende des Weges abzuheben scheint über die Mauern hinaus zu einem disparaten Licht hin. »Sterne unendliches Glühen«? – Mit diesem Bild von Giebe, »Die Kaserne (Weg mit Feuermauer)« aus dem Jahre 1974, kommt noch einmal zusammen, was vermeintlich nicht zusammenpasst: das Nebeneinander von Ungleichem – das Bild, das Gedicht, der Text und die Musik auf der einen Seite und dann die Wirklichkeit und ihre Geschichte auf der anderen. Und dann passt es genau deshalb, weil so das Leben ist.
Und so folgt nach dem intimen Stück »Vielleicht« mit Wenzel am Piano der musikalische Kontrast mit dem späten Becher-Gedicht »Turm von Babel«, in dem die Aktualität des immerhin über sechzig Jahre alten Textes regelrecht eingehämmert wird.
»Sterne glühn – Wenzel singt Becher«, dieses Ergebnis der Verbindung Wenzel, Becher und Giebe, ist jedenfalls sehr zu empfehlen.
Johannes R. Becher verkörperte wie kaum ein anderer die Widersprüche des 20. Jahrhunderts mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen, Wahrheiten und Lügen.