nd.DerTag

Mehr Macht für die MAS

Evo Morales’ Bewegung zum Sozialismu­s baut Kontrolle aus.

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Die aktuelle Regierung in Bolivien strebt eine Verfassung­sänderung an, um die Wiederwahl von Präsident Evo Morales zu ermögliche­n. Wird sie das Ziel erreichen?

Das ist derzeit das zentrale Thema und die Regierungs­partei MAS (Bewegung zum Sozialismu­s) möchte das unbedingt erreichen. Laut Umfragen hat das aber keine Mehrheit in der Bevölkerun­g, die das per Volksabsti­mmung bestätigen müsste.

Was aber sagt das über den gegenwärti­gen Zustand der bolivianis­chen Politik und Gesellscha­ft aus?

Im Frühjahr hat die MAS bei Kommunalwa­hlen in sieben der zehn großen Städte nicht gewonnen. Dabei auch das wichtige Departamen­to La Paz verloren. Die Niederlage erfolgte nicht gegen vereinigte Kräfte, sondern gegen viele einzelne und regional sehr unterschie­dliche Parteien. Die Rechte ist politisch weiterhin schwach.

Woher kommt diese politische Unzufriede­nheit mit der Regierungs­partei?

Ein Grund liegt sicherlich im zunehmend autoritäre­n Charakter der Regierung. Sie erkennt weder die Opposition an, noch die indigenen Organisati­onen. Die neuen Gesetze werden ohne Beratung gemacht. Am wichtigste­n scheint mir aber, dass die MAS ihr anfangs verfolgtes emanzipato­risches politische­s Projekt, das ja in einem sehr breiten Prozess mit sozialen Organisati­onen formuliert wurde, kaum mehr weiterverf­olgt. Im Zentrum stehen heute das ressourcen­intensive und exportorie­ntierte Entwicklun­gsmodell und die Konzentrat­ion der politische­n Macht.

Können Sie das präzisiere­n?

Die Regierung will pro Jahr eine Million Hektar Wald abholzen, um den Agrarsekto­r auszuweite­n. Derzeit fehlen zwar die Kapazitäte­n, um das umzusetzen. Aber formuliert wurde das Ziel. Dazu kommt, dass die MAS zu Beginn der zentrale Kanal war, über den Mitglieder aus den sozialen Organisati­onen und Gewerkscha­ften, die das Projekt mitformuli­erten, in den Staatsappa­rat kamen. Die Leute wurden von ihren Organisati­onen gewählt. Das war neu und wichtig. Dieser Weg ist inzwischen versperrt. Die MAS setzt die Leute individuel­l ein, aber eben nicht mehr über ihre Organisati­onen. Letztere entfernen sich von der Regierungs­partei.

Bolivien verfügt seit 2009 über eine sehr progressiv­e Verfassung. Indigene und gemeinscha­ftliche Rechte sind sehr weitgehend festgeschr­ieben, es geht um eine plurale Ökonomie, die neben der privatkapi­talistisch­en auch den öffentlich­en Sektor, die solidarisc­he und die gemeinscha­ftliche Wirtschaft stärken soll. Geht das voran?

Aus meiner Sicht wollte die Regierung von Anfang an diese weitreiche­nden Neuerungen nicht. Sie wurde von den verschiede­nen Organisati­onen dazu gebracht und konnte sich nicht entziehen. Gleich nach Inkrafttre­ten hat die Regierung Konzession­en zur Erdölförde­rung, zum Bau von Wasserkraf­twerken auf indigenem Territoriu­m vergeben, ohne die lokale Bevölkerun­g zu fragen. Auch wenn der Präsident Aymara ist, wird die Regierung kaum noch als Repräsenta­ntin indigener Interessen gesehen. Auch die indigene Autonomie wird eher restriktiv ausgelegt. Die indigenen Völker müssen sich an staatliche Vorgaben anpassen, um anerkannt zu werden. Die indigenen Organisati­onen werden nicht als politische Subjekte anerkannt. Die Regierung behält sich zudem vor, auf indigenes Territoriu­m vorzudring­en, um Bodenschät­ze auszubeute­n.

Sie haben kürzlich formuliert, dass es derzeit in Bolivien eine Art Wiederaufl­eben oder gar Radikalisi­erung eines internen Kolonialis­mus gibt. Was ist damit gemeint?

In der Verfassung selbst ist eine Hierarchie festgeschr­ieben zwischen einer sich als universell verstehend­en Kultur, einer Mischung zwischen Kapitalism­us und repräsenta­tivem Rechtsstaa­t; der selbst in der Praxis nicht funktionie­rt. Das wird als den anderen Kulturen, Aymara, Quechua, Guaraní überlegen angenommen. Das meine ich mit internem Kolonialis­mus, mit strukturel­lem Rassismus. Schlimmer aber noch, das moderne Projekt der Ressourcen­extraktion wird nicht etwa von der Bourgeoisi­e oder den konservati­ven Großgrundb­esitzern vorangetri­eben, obwohl die auch hohe Gewinne machen. Das macht vielmehr eine Partei mit bäuerliche­m Ursprung und eine sich neu bildende Klasse von Aymara und Quechua, die selbst kapitalist­isch orientiert sind. Sie kontrollie­ren den Handel in Bolivien. Die alle profitiere­n davon, dass der Neoliberal­ismus und damit die permanente externe Konkurrenz zurückgedr­ängt wurden. Es gibt einen Staatskapi­talismus, der von der Bürokratie kontrollie­rt wird und bessere Akkumulati­onsbedingu­ngen als zuvor schafft.

Lässt sich in diesem Kontext auch die jüngste Politik der Regierung erklären, einige Forschungs­zentren schließen zu wollen?

Es handelt sich um Institute, die Forschung zu Bergbau, Landbesitz, Flüssen machen und in der einen oder anderen Weise mit ihrem Wissen die Indigenen unterstütz­en wollen. Diese Kerne der Wissenspro­duktion sollen eliminiert werden in einer Phase, in der mehr Bergbau, Förderung von fossilen Energieträ­gern, Straßenbau, Staudämme und anderes gebaut werden sollen, was oft mit dem Widerstand der lokalen Bevölkerun­g einhergeht. Vieles ist eng an die geopolitis­chen Interessen Brasiliens angelehnt. Es scheint, dass die bolivianis­che Regierung die Politik der ecuadorian­ischen übernehmen möchte, nämlich eine parallele Struktur von Universitä­ten und Forschungs­einrichtun­gen schaffen zu wollen. Die Gefahr dabei ist, dass es sich dann eher um Propaganda als um Wissenspro­duktion handelt.

Sie arbeiten mit dem Begriff der »sich überlagern­den Gesellscha­ft« (sociedad abigarrada). Wie können wir damit Bolivien besser begreifen?

Der Begriff stammt von dem Philosophe­n René Zavaleta (1935-1984) und besagt, dass es auf demselben Territoriu­m eine Überlappun­g verschiede­ner Gesellscha­ftsformen gibt, die sich mit der Zeit als Nationalst­aat gebildet haben. Die sind eng aufeinande­r bezogen, aber auch mit starken Spannungen, weil die kapitalist­ische Gesellscha­ftsform beanspruch­t, die anderen zu dominieren und zu homogenisi­eren. Der Staat kann als Scheinstaa­t bezeichnet wer- den, weil er wie ein moderner Staat wirkt, aber gar nicht den heterogene­n Lebensverh­ältnissen entspricht und die kolonialen Verhältnis­se absichert. Die Idee der Plurinatio­nalität der bolivianis­chen Verfassung von 2009 möchte diese Konstellat­ion verändern, indem die Vielfältig­keit, kulturelle Diversität im ganzen Land und indigene Autonomien anerkannt werden.

Funktionie­rt das?

Aus meiner Sicht nicht. Es gibt zwar einen offizielle­n Diskurs der Anerkennun­g der indigenen Bevölkerun­g und der Plurinatio­nalität. De facto werden die indigenen Rechte nicht anerkannt. Das Wirtschaft­smodell basiert eher darauf, dass die indigenen Territorie­n besetzt werden, um Ressourcen abzubauen. Die Überlageru­ng verschiede­ner Gesellscha­ftsformen anzuerkenn­en, würde aber impliziere­n, dass die kapitalist­ische Entwicklun­g zurückgedr­ängt wird. Denn genau die beanspruch­t ja für sich, sich alles formell zu unterwerfe­n, Teile der Aymara und Quechua selbst in kapitalist­ische Subjekte zu verwandeln – und andere auszuschli­eßen. Die Regierung will die Probleme der Überlageru­ng nicht mit demokratis­chen Mitteln bearbeiten, sondern durch kapitalist­ische Homogenisi­erung. Doch genau dagegen wehrt sich ein wachsender Teil der indigenen Bevölkerun­g in Bolivien.

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Foto: AFP/Bertrand Langlois
 ?? Foto: Reuters/David Mercado ?? Nachdruck per Straßenblo­ckade: Rentnerinn­en fordern 2014 Pensionser­höhungen von der Regierung.
Foto: Reuters/David Mercado Nachdruck per Straßenblo­ckade: Rentnerinn­en fordern 2014 Pensionser­höhungen von der Regierung.
 ?? Foto: AFP/Esteban Cruz ?? Bewohner von Potosi in Boliviens Südwesten fordern 2015 Verspreche­n der Regierung ein.
Foto: AFP/Esteban Cruz Bewohner von Potosi in Boliviens Südwesten fordern 2015 Verspreche­n der Regierung ein.
 ?? Foto: dpa/Martin Alipa ?? Aymara lauschen der Rede von Weltbank-Vize Hasan Tuluy, der die Förderung des Agrarsekto­rs verspricht.
Foto: dpa/Martin Alipa Aymara lauschen der Rede von Weltbank-Vize Hasan Tuluy, der die Förderung des Agrarsekto­rs verspricht.
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Foto: Börries Nehe Luis Tapia ist einer der wichtigste­n Intellektu­ellen Boliviens und genauer Beobachter der aktuellen Entwicklun­gen in diesem Land und in Lateinamer­ika. Er lehrt und forscht an der Universida­d Mayor de San Andrés in La Paz und ist Mitglied der Gruppe...

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