Die unbemerkte Katastrophe
Wohnungslosigkeit: Es gibt nicht mal Daten Bereits vor 20 Jahren hat sich der Bundestag dazu bekannt, Wohnungslosigkeit als »gesamtgesellschaftliche« Herausforderung zu betrachten. Doch tatsächlich geschehen ist seither fast nichts.
Die Lösung eines Problems beginnt mit dessen Wahrnehmung. Insofern ist Deutschland weit davon entfernt, der schnell wachsenden Obdach- und Wohnungslosigkeit zu begegnen: Bis heute gibt es nicht einmal eine Statistik darüber, wie viele Menschen wo im Land auf der Straße leben, in Notunterkünften stecken oder bei Verwandten auf der Couch schlafen, weil sie ihre Wohnung verloren haben oder keine finden können.
Einzig das Land Nordrhein-Westfalen macht sich derzeit die Mühe, solche Daten zu erheben. Unter anderem auf dieser Basis schätzt die »Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V.« (BAGW) den Umfang des existenziellen Problems. Und so wächst in Deutschland in aller Stille eine Katastrophe heran – gerade so, wie sich ein Wohnungsverlust meistens vollzieht: In etwa 60 Prozent der Fälle, schätzt die BAGW, verlassen Mieter, denen Mietschulden und sonstige Probleme über den Kopf gewachsen sind, ihre Wohnung in aller Heimlichkeit noch vor einer gerichtlich angeordneten Zwangsräumung. Man spricht dann von einem »kalten Wohnungsverlust«.
Insgesamt etwa 335 000 Wohnungslose gibt es nach der aktuellen BAGW-Schätzung derzeit in Deutschland, das sind 18 Prozent mehr als noch 2012. Und eine Vielzahl dieser Fälle hätte verhindert werden können, glaubt die Organisation, die 1954 als Bundesarbeitsgemeinschaft für »Nichtsesshaftenhilfe« gegründet wurde und in der heutigen Ausrichtung seit 1991 besteht. Denn es gibt durchaus Instrumente gegen Wohnungsverlust. 2014, schätzt die Organisation, seien insgesamt 172 000 Haushalte davon »unmittelbar« bedroht gewesen; in etwa 50 Prozent dieser Fälle kam es durch präventive Maßnahmen schließlich nicht dazu. Doch noch machten viel zu wenige Kommunen – besonders Landkreise und kleinere sowie mittlere Städte – von den gesetzlichen Möglichkeiten nach dem Sozialgesetzbuch II und XII Gebrauch. Auch gebe es noch immer zu wenige Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungsverlusten.
Das liegt am Fehlen einer kohärenten Strategie auf Länder- sowie Bundesebene: Zu einem »Wohnungslosigkeitsgipfel« wurde bisher so wenig eingeladen wie es einen »Aktionsplan« gibt. Die BAGW fordert beides und hat 2014 ein entsprechendes Konzept vorgelegt – als Teil jener nationalen Strategie zur Armutsbekämpfung, die die EU schon lange von Deutschland erwartet, ohne bisher auf politische Resonanz gestoßen zu sein. Seit Jahren würden entsprechende Anfragen aus Brüssel »zwischen den Ressorts Wohnen und Soziales hin- und hergeschoben«, kritisiert das BAGW-Papier.
Die weitgehende Untätigkeit der Politik ist um so unverständlicher,
Gegenüber 2012 ist die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland um 18 Prozent angestiegen. Von den Betroffenen 335 000 Menschen leben 39 000 mittlerweile tatsächlich auf der Straße. Gründe dafür sind vor allem politische Gleichgültigkeit und eine verfehlte Wohnungspolitik. Es fehlt an einem kohärenten Vorgehen auf allen Ebenen. Nun wird eine »nationale Strategie« gefordert.
wenn man weiß, dass sich der Bundestag bereits vor 20 Jahren dazu bekannt hat, Obdachlosigkeit als eine »gesamtgesellschaftliche« Herausforderung zu betrachten und unter anderem eine bundesweite Wohnungslosenstatistik zu erstellen. Daran erinnerte 2013 ein entsprechender Antrag der Linksfraktion im Bundestag. Dieser wurde abgelehnt. Und geschehen ist seither nichts.
Auf Bundesebene fordert die BAGW nun abermals die Einrichtung einer interministeriellen Arbeitsgruppe und eine konkrete gesetzliche Regelung zur Erstellung einer Wohnungsnotfall-Statistik »als gesetzliche Pflichtstatistik« in ge- schlechtlicher Differenzierung und in Bund und Ländern anhand der Methode Nordrhein-Westfalens. Auf deren Basis könnten dann weitergehende Maßnahmen gezielt verbessert und geschaffen werden, wobei die Verhinderung von Wohnungsverlusten erste Priorität haben sollte, aber auch Verfügbarkeit und Standards von Notunterkünften gezielt zu verbessern seien. Dazu sollen auf allen Verwaltungsebenen spezielle »Wohnungsnotfall-Rahmenpläne« (WRP) entwickelt werden. Im Sozialgesetzbuch II und XII soll eine entsprechende »Planungsverpflichtung« verankert werden. Anzustreben sei auch ein »Recht auf Wohnen«.
Darüber hinaus und ebenso dringend, sagte der BAGW-Vorsitzende Winfried Uhrig am Montag in Berlin, müsse die Politik aufhören, die Rahmenbedingungen noch zu verschärfen – besonders auf dem Wohnungsmarkt. Der Verkauf von öffentlichen Wohnungen an private Investoren habe sich sehr ungünstig auf die Situation ausgewirkt. Allein seit 2002 sei rund eine Million Sozialwohnungen verloren gegangen. Insgesamt fehlten in Deutschland mindestens 2,7 Millionen kleinere und kleine Wohnungen in allen Preisklassen. 16,4 Millionen Einpersonenhaushalten stünden nur gut 13,6 Ein- bis Dreiraumwohnungen gegenüber.