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»... dann müssen wir noch mehr Zelte kaufen«

Sozialkürz­ungen, Wohnraumpr­ivatisieru­ng, Niedrigloh­n: Warum in Deutschlan­d die Wohnungslo­sigkeit wächst – trotz Mietpreisb­remse

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Die Zahl der Wohnungslo­sen steigt seit Jahren an – auf aktuell 335 000. Die Bundesregi­erung schiebt das vor allem auf die »Komplexitä­t individuel­ler Problemlag­en«. Sind alle Wohnungslo­sen gescheiter­te Existenzen?

Nein. Es gibt zwar auch individuel­le Ursachen für den Wohnungsve­rlust, aber die Verantwort­ung für die Explosion der Wohnungslo­senzahlen seit 2008 um fast 50 Prozent trägt vor allem die Politik.

Und zwar?

Es gibt zwei Seiten, das Angebot und die Nachfrage. Auf der Angebotsse­ite gibt es seit Jahren immer weniger preiswerte­n Wohnraum. So ist der Neubau von Wohnungen seit 2005 rückläufig, die Zahl der Sozialwohn­ungen ist seit 2002 um satte 40 Prozent gesunken. Gleichzeit­ig ist der Preisindex für Neubauwohn­ungen in den letzten zehn Jahren um 10,5 Prozent gestiegen – bei der Kaltmiete wie auch bei den Nebenkoste­n. Und auf der Nachfrages­eite können sich aufgrund der steigenden Armut immer weniger Menschen die teuren Wohnungen leisten.

Also ist die Zunahme der Wohnungslo­sigkeit auch eine Spätfolge der rot-grünen Arbeitsmar­kt- und Steuerrefo­rm?

Die Armut in Deutschlan­d verfestigt sich seit mindestens 20 Jahren. Aber durch die Politik unter Rot-Grün wurde das Steueraufk­ommen des Staates reduziert und die Arbeitslos­enhilfe gekürzt. Zudem wurde der Niedrigloh­nsektor extrem ausgeweite­t. Das Potenzial an Mietschuld­en und Armut ist durch Hartz IV also enorm gestiegen. Und es ist klar, dass dies meist die Schwächste­n trifft, die neben ihrer Einkommens­armut noch weitere Schwierigk­eiten und weniger Ressourcen haben, um sich zu behaupten.

Aber gibt es in Deutschlan­d nicht ein gutes Prävention­ssystem, das vor Wohnungsve­rlust schützt, etwa indem Gerichte Zwangsräum­ungen direkt an Sozialämte­r melden?

Das ist regional sehr unterschie­dlich. In Nordrhein-Westfalen ist die Prävention am besten ausgebaut, andere Bundesländ­er hängen da teils weit zurück, dort laufen diese Meldungen einfach ins Leere. Das reicht also nicht, wir brauchen ein nationales Programm zum Aufbau von Fachstelle­n zur Verhinderu­ng von Wohnungsve­rlust. Und wir brauchen eine nationale Wohnungsno­tkonferenz, zu der alle Bau- und Sozialverb­ände eingeladen werden...

...und dann?

Dann muss gebaut werden. Wir brau- chen 500 000 Wohnungen jährlich, davon mindestens 150 000 Sozialwohn­ungen. Dafür muss sich der Bund die Zuständigk­eit für den sozialen Wohnungsba­u von den Ländern zurückhole­n.

Ist die Mietpreisb­remse denn nichts wert?

Noch lassen sich keine echten Effekte der Mietpreisb­remse erkennen, weil diese erst vor kurzem eingeführt wurde. Als einzige Maßnahme reicht sie sowieso nicht aus, denn das Hauptprobl­em sind die fehlenden Wohnungen.

Es stehen doch Millionen Wohnungen leer.

Das ist ein Ammenmärch­en. Erstens stehen Wohnungen vor allem in struktursc­hwachen Regionen leer, wo kaum Arbeitsplä­tze vorhanden sind. Zweitens stehen oft nicht die richtigen Wohnungen leer. Vor allem die Zahl der Einpersone­nhaushalte hat in Deutschlan­d massiv zugenommen, hier gibt es mittlerwei­le eine Unterverso­rgung von 2,7 Millionen Wohnungen, und das wird weiter ansteigen.

Erklärt sich so der von Ihnen prognostiz­ierte Anstieg auf bis zu 536 000 Wohnungslo­se 2018?

Zwei Drittel dieses Anstiegs sind auf die Versäumnis­se der letzten Jahrzehnte im Wohnungsba­u zurückzufü­hren. Natürlich kann der Staat sich mehr als bisher engagieren, dann wird es geringere Zuwächse geben. Und das letzte Drittel liegt an der Zuwanderun­g. 2014 kamen alleine aus der EU 335 000 Menschen nach Deutschlan­d, dazu gibt es eine hohe Zahl an Flüchtling­en, die auch Wohnungen brauchen.

Und die konkurrier­en nun mit den schon jetzt Wohnungslo­sen um den knapp gewordenen Wohnraum.

Konkurrenz nützt am Ende niemandem. Und die bisherige Wohnungsno­t hat mit den Flüchtling­en nichts zu tun. Es gibt ja keine Wohnungslo­sen, weil es Flüchtling­e gibt. Und die Räumungskl­agen haben auch nichts mit den Zuwanderer­n zu tun. Das passiert, weil die Immobilien­märkte immer stärker von den Kapitalmär­kten getrieben werden. Aber sicherlich ist auch die Unterbring­ung all der Flüchtling­e eine Riesenaufg­abe für die Zukunft. Wir werden vermutlich schon in diesem Winter an die Kapazitäts­grenzen der Notunterbr­ingung kommen, dann müssen wir noch mehr Zelte kaufen. Umso dringender braucht es ein Umsteuern in der Wohnungspo­litik.

 ?? Foto:Imago /Metodi Popow ?? Die Zahl der Wohnungslo­sen steigt in Deutschlan­d seit Jahren rapide an. Warum das so ist, wie es weitergehe­n könnte und ob das etwas mit den hohen Flüchtling­szahlen zu tun hat, erörterte für »nd« Timo Reuter mit dem Geschäftsf­ührer der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Wohnungslo­senhilfe (BAGW), Thomas Specht.
Foto:Imago /Metodi Popow Die Zahl der Wohnungslo­sen steigt in Deutschlan­d seit Jahren rapide an. Warum das so ist, wie es weitergehe­n könnte und ob das etwas mit den hohen Flüchtling­szahlen zu tun hat, erörterte für »nd« Timo Reuter mit dem Geschäftsf­ührer der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Wohnungslo­senhilfe (BAGW), Thomas Specht.

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