Liebe und Hass
Der hohe Altersschnitt hat auch eine gute Seite: Wer Arbeit sucht, wird in Suhl eine finden. Für mehr Gutes über ihre Stadt müssen die Bewohner lange nachdenken Die einstige Bezirksstadt Suhl ist seit der Wende dramatisch geschrumpft und gealtert. Die Geb
»Nein«, sagt Robert Kress. Von Hass zu sprechen sei dann doch etwas übertrieben. So schlimm sei es nicht. Will er, auf der anderen Seite, von Liebe reden? Kress verneint wieder. Auch das sei ein zu starkes Wort. Obwohl ... Passendere Begriffe fallen ihm auch nicht ein, um das Spannungsfeld zu beschreiben, in dem er seine Heimatstadt wahrnimmt, wie er sie sieht, erlebt, begreift. Das ist umso eigenartiger, weil Kress ein Freizeitkünstler ist, der eigentlich mit Worten zu spielen weiß. Dass er das auszudrücken versteht, was andere nur denken, hat er erst vor Kurzem unter Beweis gestellt.
Während er über Hass und Liebe nachdenkt, schaut Kress nach draußen; durch die großen Scheiben des Cafés, das direkt an einem der zentralen Verkehrspunkte der Stadt Suhl liegt. Und was dort zu sehen ist, kann erklären, woher die gemischten Gefühle rühren.
Vor etwa eineinhalb Jahren hat er mit zwei jungen Männern und einer jungen Frau auf vielen Bühnen Südthüringens gestanden und über dieses Spannungsfeld gesungen. Ein Spannungsfeld, das inzwischen ein wichtiger Teil der Identität der ehemaligen Bezirksstadt Suhl ist. »Ja, ja, wir Suhler, wir sind einfach just the best. Denn bist’de Suhler kommst’de cooler als der Rest«, haben Kress und die anderen damals geträllert. Ein paar Liedzeilen später geht es unter anderem um die Kleinräumigkeit der Stadt, ihre Dauerbaustellen, »die allerschönsten Mädels – 50plus« und einen Mythos: Dass – so wird jedenfalls in der Stadt erzählt – in Suhl weltweit zum ersten Mal eine McDonaldsFiliale aus Mangel an Kunden schließen musste.
Das Lied mit dem dazugehörigen selbstgebastelten Musikvideo war – im lokalen Maßstab betrachtet – ein Mega-Hit. Nachdem es im Januar 2014 bei Youtube hochgeladen worden war, wurde es innerhalb von 24 Stunden etwa 10 000 Mal angeklickt. Inzwischen steht der Zugriffszähler jenseits der 75 000er-Marke. Bald traten die Hobbymusiker bei praktisch jedem regionalen Event auf und besangen die Stadt, zu der sie alle eine enge Beziehung haben. Kress bis heute. Der 33Jährige wurde in Suhl geboren, ging hier bis 1999 zur Schule und arbeitet nun auch in Suhl.
Kress sagt, er glaube fest, dass der Erfolg des Liedes – entstanden aus reiner Rumblödelei – vor allem mit dem reflektierten Über-sich-selbst-Lachen zusammenhänge, das den Song durchzieht. Auf eine witzige Art beschreibe das Lied, »was sich zu viele in der Stadt noch immer schön reden«, sagt Kress. »Ich denke, es hat den Leuten gefallen, dass wir das mit Ironie erzählt haben.«
»Das« – das ist die Krise, in der Suhl seit der Wende steckt. Eine Krise, die Suhl hart getroffen hat. So hart wie wohl keine andere der ehemaligen Bezirksstädte der DDR. Vor allem hängt diese Krise mit der Demografie zusammen, so dass Suhl immer wieder gesamtdeutsche Aufmerksamkeit bekommt, wenn überregionale Medien auf der Suche nach den am stärksten schrumpfenden und alternden Orten Deutschland sind.
Die zentralen Kenndaten dazu: Hatte Suhl kurz vor der Wende vor 25 Jahren etwa 56 000 Einwohner, waren es nach den jüngsten verfügbaren Daten des Thüringer Landesamtes für Statistik 2014 nur noch etwa 36 000. Und noch mehr als in anderen ostdeutschen Städten, die nach der Wende für sie so wichtige Industrien verloren, sind in der Vergangenheit vor allem die Jungen fortgegangen, die Älteren und Alten geblieben. Schon vor fünf Jahren war Suhl nach Angaben des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung unter den kreisfreien Städten und Landkreisen die Kommune mit dem höchsten Durchschnittsalter Deutschlands. Dieser Wert lag in Suhl bei 48,8 Jahren. Zum Vergleich: Die Ex-DDR-Bezirksstädte Erfurt und Gera kamen damals auf Werte von 44,1 und 47,9 Jahre.
Immerhin gibt es inzwischen ein bisschen Hoffnung, dass die Demo- grafie die Stadt in Zukunft nicht mehr so hart trifft wie in der Vergangenheit: Hieß es in Berechnungen verschiedener Statistiker bisher stets, die Einwohnerzahl der Stadt werde sich bis 2030 stark in Richtung der Marke von 22 000 bewegen, geht die jüngste Prognose des Thüringer Landesamtes für Statistik nun von einem ganz anderen Wert aus. Nach der erst wenige Tage alten Vorausberechnung wird Suhl bis 2030 für seine Verhältnisse ziemlich gleich groß bleiben: Die Einwohnerzahl soll dann bei etwa 33 500 liegen.
Allerdings: Das ist eine Zukunftsprojektion, die ebenso mit methodischen Schwächen versehen ist wie die bisherigen Berechnungen. Und das Vergangene ungeschehen machen kann sie auch nicht. Nicht ungeschehen machen kann sie, dass im Stadtbild das Schrumpfen von 25 Jahren deutlich zu sehen ist; auch nichts daran ändern, dass in Suhl seit Jahren permanent Haushaltsnotstand herrscht. Kress sieht all das, wenn er aus den großen Fenstern des Cafés sieht. Kurz vor 20 Uhr fahren kaum noch Autos über die wichtige Kreu- zung, auf die er blickt. Nur wenige Männer und Frauen Anfang oder Mitte Zwanzig gehen über die Bürgersteige, tippen auf ihren Smartphones.
Bei Menschen in Kress’ Alter führen solche und ähnliche Szenerien sowie ihre Erfahrungen mit der jüngsten Geschichte zu der Wahrnehmung, dass in Suhl »nichts los« ist. »Rückblickend muss ich sagen, dass es mit der Stadt eigentlich seit 1990 nur abwärts ging, dass es jedes Jahr schlimmer geworden ist«, sagt Kress. Erst im Juli hatte ein Musikclub in der Stadt dicht gemacht, den die Betreiber kei- ne zwölf Monate zuvor in der Hoffnung eröffnet hatten, die verbliebenen Junggebliebenen würden das Angebot dankend annehmen. Als es zu Ende war, waren die Männer einfach nur frustriert.
Aber auch wenn Kress so wie viele andere Suhler lange über all »das« schimpfen kann: Er will trotzdem nicht weg aus der Stadt. Da ist eben noch die Sache mit der Liebe, die als Wort vielleicht übertrieben sein mag, die in der Tendenz doch gut beschreibt, was nicht nur für Kress »Heimat« ist. Kress sagt, natürlich sei die Lage in der Stadt schwierig. Aber er hat Freunde hier und seine Familie und völlig unmöglich sei es ja auch nicht, seine Freizeit sinnvoll zu gestalten. Kress erzählt von Ausflügen in ein kleines Besucherbergwerk vor den Toren der Stadt, von Fahrten in den Zoo nach Erfurt, der nur etwa eine Autostunde entfernt liegt, von Grill- und Fußballabenden.
Und: Kress hat eben einen Job in Suhl; »das einzige Plus, das diejenigen, die hiergeblieben sind, davon haben, dass so viele nicht mehr hier sind«, sagt er. Nachdem Kress bei der Bundeswehr als Zeitsoldat gedient hat – dort hat er sich während der Genesungszeit nach einer Operation das Gitarrespielen selbst beigebracht –, arbeitet er inzwischen als Lackierer in seiner Geburtsstadt. »Wenn man nicht völlig arbeitsunwillig ist, dann bekommt man in Suhl oder der Region auf jeden Fall eine Arbeit«, sagt er. Die guten Wirtschaftsdaten Südthüringens, auf die die lokale Industrieund Handelskammer so gerne verweist, geben ihm da völlig Recht. Auch wenn keines der Unternehmen in der Region heute auch nur ansatzweise so viele Arbeitsplätze bietet wie die Unternehmen es einst taten, die mit der Wende kaputtgingen – das Elektrogerätewerk Suhl zum Beispiel, das unter anderem die berühmten DDR-Handrührgeräte hergestellt hat –, so suchen doch zahlreiche Mittelständler händeringend Personal. Die Region hat eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in den neuen Bundesländern; überhaupt, eine, die regelmäßig sogar niedriger ist als die Quote in manchen Alt-Bundesländern.
Treffendere Begriffe als Hass und Liebe, um seine Sicht auf Suhl zu beschreiben, fallen Kress auch nach seinem langen Blick aus dem Fenster nicht ein. Dafür aber etwas anderes: Dass er Suhl so negativ und gleichzeitig als Heimat sehe, das, sagt er, »das hört sich alles ein bisschen unentschlossen an, oder?« Er blickt wieder nach draußen. »Aber es ist eben so.«