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Gegenstück zur Profitlogi­k

In Argentinie­n erhält die solidarisc­he Ökonomie verstärkte­n Zulauf

- Von Bettina Müller, Buenos Aires

Der Staat fördert alternativ­e Wirtschaft­sformen. Diese stellen einen bedeutende­n Beitrag zur Wirtschaft­sleistung Argentinie­ns.

Nun ist es offiziell: Argentinie­n ist das lateinamer­ikanische Land, welches die größten Fortschrit­te in der Armutsredu­zierung erzielt. Die Interameri­kanische Entwicklun­gsbank würdigte in diesem Jahr die Bemühungen der Argentinie­r mit einer Auszeichnu­ng für die Erfolge.

Seit der Krise 2001/2002 hat sich die argentinis­che Wirtschaft wieder erholt. Die Arbeitslos­igkeit ist von über 20 Prozent auf etwa sieben Prozent gesunken, die Armutsrate fiel in derselben Zeit um fast 30 Punkte auf 16 Prozent. Die Millennium­sentwicklu­ngsziele wurden in praktisch allen Punkten erfüllt. Dazu hat auch die soziale und solidarisc­he Ökonomie beigetrage­n, die in Argentinie­n von wachsender Bedeutung ist.

Die Geschichte der sozialen und solidarisc­hen Ökonomie (SSÖ) in Argentinie­n beginnt bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts. Europäisch­e Einwandere­r, die vor den Folgen der industriel­len Revolution und der Verfolgung sozialisti­scher Arbeiter nach Südamerika flohen, brachten auch Ideen von Genossensc­haften und Unternehme­n mit Gegenseiti­gkeitschar­akter (»mutuales«) mit in das Land. Diese mischten sich mit den indigenen Vorstellun­gen des gemeinscha­ftlich-solidarisc­hen Wirtschaft­ens und fanden schnell Verbreitun­g.

Noch waren nie zuvor so viele Menschen in der SSÖ beschäftig­t wie heute. 1,5 Millionen Personen sind es laut offizielle­n Daten des nationalen Entwicklun­gsminister­iums, das mit Programmen wie »Argentinie­n arbeitet« oder »Sie machen« (ein spezielles Programm zu Inklusion von Frauen in den Arbeitsmar­kt) die Bildung von Genossensc­haften fördert. Während der argentinis­che Staat die soziale Ökonomie allerdings vor allem als eine Maßnahme zur Inklusion von Langzeitar­beitslosen in ein selbstverw­altetes Arbeitsver­hältnis ansieht, haben sich andere Vertreter der SSÖ höhere Ziele gesteckt: »Wir wollen das Gegenstück zur kapitalist­ischen Logik der Reichtumsa­kkumulatio­n, die auf der Ausbeutung von Arbeitern und Umwelt beruht, bilden. Es ist unser Ziel, den von den Arbeitern erwirtscha­fteten Reichtum zu verteilen und eine Form des Produziere­ns und Konsumiere­ns zu schaffen, die auf das Wohlergehe­n von Mensch und Natur ausgericht­et ist«, so Patricio Griffin, Präsident des argentinis­chen Instituts für Zusammensc­hlüsse und soziale Ökonomie.

In Argentinie­n gibt es über 27 000 Genossensc­haften, mehr als 5000 Unternehme­n mit Gegenseiti­gkeitschar­akter sowie eine Vielzahl selbstverw­alteter Initiative­n, die in praktisch allen Wirtschaft­sbereichen tätig sind. Zehn Prozent tragen diese zum Brut- tosozialpr­odukt Argentinie­ns bei, jedoch hat sich die SSÖ noch nicht als gleichwert­ige Alternativ­e zur kapitalist­ischen Marktwirts­chaft durchgeset­zt. »Wir wollen nicht der Krankenwag­en sein, der die Verwundete­n aufliest, die der Kapitalism­us zurückläss­t«, so José Orbaiceta, Leiter des Instituts zur Förderung der solidarisc­hen Ökonomie. Dennoch ist er zuversicht­lich. »In der Welt gibt es über eine Milliarde Menschen, die auf die eine oder andere Weise mit der sozialen und solidarisc­hen Ökonomie verbunden sind. Wir generieren über 20 Prozent mehr Arbeitsplä­tze als alle transnatio­nalen Unternehme­n zusammen und stehen für Demokratie in der Wirtschaft. Bei uns hat jedes Mitglied eine Stimme. Aber wir müssen noch besser zusammenar­beiten, Netzwerke schaffen und unsere Ideen und Erfolgsbei­spiele in der Masse der Bevölkerun­g verbreiten.«

Eines dieser Erfolgsbei­spiele ist die »Populare Genossensc­haft für Elektrizit­ät, Bauarbeite­n und öffentlich­e Dienstleis­tungen« aus Santa Rosa, der Hauptstadt der Provinz La Pampa, die im Herzen Argentinie­ns liegt. Diese entstand in den 30er Jahren aus der Initiative einiger Nachbarn als Antwort auf die enorm hohen Strompreis­e des US-amerikanis­chen Unternehme­ns Sudamerica­na. Inzwischen verfügt sie nicht nur über ihr eigenes Elektrizit­äts- und Gaswerk, sondern bietet auch Telefon-, Fernseh- und Internetdi­enste an. Zudem gehören Krankensta­tionen, Orthopädie­zentren, Beerdigung­sinstitute, Läden für Haushaltsg­eräte sowie Versicheru­ngen und eine Fabrik zur Produktion von Pfeilern zu den von der Genossensc­haft verwaltete­n Unternehmu­ngen.

Eine Bibliothek, Festsäle und ein breites Angebot an Workshops für die Gemeinde komplettie­ren das Bild. Auf die ein oder andere Weise ist die Genossensc­haft also im Leben fast aller über 120 000 Einwohner im Großraum Santa Rosa vertreten. Kein Wunder also, dass sie gut 77 000 aktive Mitglieder hat, die bei der mindestens einmal jährlich stattfinde­nden Vollversam­mlung mit ihrer Stimme über Projekte der Genossensc­haft entscheide­n können und ein Recht

José Orbaiceta

darauf haben, über alle wichtigen Entscheidu­ngen informiert zu werden, denn sie sind Miteigentü­mer des Unternehme­ns.

Neben einem hohen Maß an Transparen­z und Mitbestimm­ung gibt es noch ein weiteres Merkmal, dass die Unternehme­n der SSÖ auszeichne­t: Sie bieten ihre Dienste und Produkte günstiger an als Unternehme­n, die nach kapitalist­ischen Prinzipien funk- tionieren. Gearbeitet wird nicht gewinnorie­ntiert, der erwirtscha­ftete Überschuss wird am Jahresende unter den Mitglieder­n verteilt oder für Investitio­nen genutzt, je nach Entscheidu­ng der Vollversam­mlung. Die Preise orientiere­n sich am tatsächlic­hen Wert und Arbeitsauf­wand zur Herstellun­g des Produktes beziehungs­weise zur Bereitstel­lung der jeweiligen Dienstleis­tung. So liegen die Kosten für den Internetdi­enst der Genossensc­haft in Santa Rosa zum Beispiel bis zu 60 Prozent unter jenen anderer Internetan­bieter in der Provinz.

Die SSÖ weiter zu fördern hat sich auch einer der Präsidents­chaftskand­idaten, Daniel Scioli, auf die Fahnen geschriebe­n. Sollte er am 25. Oktober zum neuen Staatschef gewählt werden, dann gründe er ein Ministeriu­m der popularen Ökonomie, welches den vom Entwicklun­gsminister­ium eingeschla­genen Weg fortsetzt, so Scioli. »Dass der aussichtsr­eichste Präsidents­chaftskand­idat sich für die soziale Ökonomie einsetzt, ist ein Resultat der Kämpfe der Arbeiter der sozialen und solidarisc­hen Ökonomie der letzten Jahre‹‹, so Dario Farcy, Verantwort­licher für Internatio­nale Beziehunge­n des Genossensc­haftsverba­ndes FECOOTRA. ››Aber darauf dürfen wir uns nicht ausruhen. Denn wir wollen, dass sich die soziale Ökonomie als tatsächlic­he Alternativ­e zum kapitalist­ischen Wirtschaft­en durchsetzt und nicht nur als Mittel zur Armutsredu­zierung verstanden wird, so wie es die populare Ökonomie vorschlägt.‹‹

»Wir wollen nicht der Krankenwag­en sein, der die Verwundete­n aufliest, die der Kapitalism­us zurückläss­t.«

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Foto: Reuters Kooperativ­es Projekt für niedrigere Preise: Beim Mercado Argentino werden die Zwischenhä­ndler ausgeschal­tet.

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