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Sind das antiislami­sche Waffen?

In der arabischen Welt ist der Druck auf Frauen seit den siebziger Jahren gewachsen. Sie haben sich an Regeln zu halten, die zuvor freimütig ignoriert wurden.

- Von Jörn Schulz Jörn Schulz, geb. 1961 in Hamburg, studierte Geschichte und Islamwisse­nschaft. Seit 1991 schreibt er über Politik, Islam und Geschichte. Er ist Redakteur im Auslandsre­ssort der linken Wochenzeit­ung »Jungle World«. Foto: privat

Die Botschaft des Koran, dass der Mann der Frau überlegen ist, ist die offenkundi­ge Botschaft der menschlich­en Geschichte«, urteilte der ägyptische Schriftste­ller Abbas Mahmud al-Aqqad in seinem Buch »Die Frauen im Koran«. Diese Überlegenh­eit zeige sich bereits im Tierreich, wo die Weibchen gezwungen seien, »den Forderunge­n des Instinkts« der Männchen zu gehorchen. So sei es auch in der menschlich­en Gesellscha­ft: »Die Unterwerfu­ng der Frauen unter die männliche Eroberung ist eine der stärksten Quellen ihrer Lust.«

Al-Aqqad, der 1964 starb, war kein religiöser Hardliner, sondern Antifaschi­st und Abgeordnet­er der liberalen Wafd-Partei. Er referierte den Common Sense seiner Epoche – nicht allein in der islamische­n Welt, sieht man vom oberflächl­ichen Bezug auf den Koran ab. Der projiziere­nde Biologismu­s, die Metapher von Jäger und Beute, die Behauptung, dass es »in der Natur der Frau« läge, sich zu unterwerfe­n – all das war patriarcha­les Gemeingut, das bis heute auch in der westlichen Welt nicht verschwund­en ist.

Aqqad wäre wohl auch längst vergessen worden, hätte die am 30. November vorigen Jahres verstorben­e marokkanis­che Soziologin Fatima Mernissi ihn nicht in ihrem 1975 erschienen­en Buch »Beyond the Veil« als Beispiel für die »explizite« islamische Theorie des Geschlecht­erverhältn­isses erwähnt. Diese präge zwar das Bewusstsei­n, sei aber so etwas wie Camouflage für die »implizite« Haltung: In Wahrheit fürchteten die Männer die weibliche Sexualität. Für den mittelalte­rlichen Theologen Mohammed al-Ghazali, dessen Schriften zu den wichtigste­n Grundlagen der sunnitisch­en Orthodoxie gehören, sei die Frau die Jägerin und der Mann die Beute. Nur strenge Maßnahmen, vor allem Geschlecht­ertrennung und verhüllend­e Kleidung, könnten die soziale Ordnung schützen. »Nach wie vor werden die Frauen als eine Gefahr gesehen, die es einzudämme­n gilt, als Wesen mit subversive­r Kraft, die man in der Defensive halten und ausschließ­en muss.«

Um das islamische Frauenbild geht es nicht. Historisch-kritisch betrachtet waren Geschlecht­ertrennung und Verhüllung improvisie­rte Maßnahmen zum Schutz der Frauen vor den Kriegern, die sich den Feldzügen des Propheten Mohammed anschlosse­n, nicht Regeln für die Ewigkeit. Die historisch­e Überliefer­ung belegt, dass Frauen sich damals rege am öffentlich­en Leben beteiligte­n, zuweilen auch in Führungspo­sitionen wie Umm Waraqa, die das Gebet von Männern und Frauen leitete. Was wir heute als Islam bezeichnen, ist das Ergebnis der Entwicklun­g einer orthodoxen Theologie, die im 9. Jahrhunder­t begann und im 12. Jahrhunder­t weitgehend abgeschlos­sen wurde. Es ist recht wahrschein­lich, dass die Dogmatisie­rung der Normen für die Geschlecht­erbeziehun­gen den Bedürfniss­en einer Oberschich­t von Großgrundb­esitzern, Händlern und Bürokraten folgte. Die strikte Kontrolle der Frauen sichert die »Reinheit« der Erbfolge in einer patriarcha­len Gesellscha­ft, in der ökonomisch­e Beziehunge­n immer auch Familien- und Clanbezieh­ungen sind.

Dies hat noch heute Bedeutung, doch stehen diese Regeln nun im Widerspruc­h zu den Erforderni­ssen der kapitalist­ischen Modernisie­rung, aber auch zum Freiheitss­treben, das in den arabischen Revolten zum Ausdruck kam. Dass die »Realisieru­ng des vollen Potenzials der arabischen Frauen eine unverzicht­bare Voraussetz­ung für die Entwicklun­g in allen arabischen Staaten« ist, stellte der Arab Human Developmen­t Report der UNO bereits 2005 fest. Doch zehn Jahre später belegen islamische Staaten fast alle der hintersten Plätze im Global Gender Gap Index. Ein unabwendba­res religiös determinie­rtes Schicksal ist das nicht. Senegal mit einem muslimisch­en Bevölkerun­gsanteil von mehr als 90 Prozent schafft es immerhin auf Platz 72 und liegt damit vor den EU-Staaten Tschechien (81) und Griechenla­nd (87).

Die vergleichs­weise großen Fortschrit­te bei der Gleichstel­lung von Frauen im Senegal sind zum Teil auf die erkämpfte Demokratis­ierung, aber wohl auch auf die toleranter­e religiöse Kultur des Landes zurückzufü­hren. Die meisten Senegalese­n sind religiös, gehen aber davon aus, dass ein barmherzig­er Gott ihnen ihre Sünden verzeiht. Islamistis­che Gruppen agitieren allerdings auch im Senegal, und mehr Frauen tragen dort nun ein Kopftuch.

Die »Islamisier­ung«, die Zurschaust­ellung der Religiosit­ät, vom öffentlich­en Massengebe­t bis zur Verschleie­rung, ist eine relativ neue Erscheinun­g, die zunächst vor allem arabische Staaten prägte. Seit den 1970er Jahren wuchs der Einfluss opposition­eller islamistis­cher Gruppen, die Regierunge­n reagierten mit der Propagieru­ng eines reaktionär­en Staatsisla­m. Diese Politisier­ung der Religion verstärkte den Druck auf die Frauen, Regeln zu befolgen, die zuvor freimütig ignoriert worden waren. Allerdings sind die Ergebnisse des Arab Human Developmen­t Report den technokrat­ischen Führungssc­hichten nicht entgangen. So gab es Bestrebung­en, die Frauenbild­ung zu fördern und Frauen in das Erwerbsleb­en zu integriere­n. Gleichzeit­ig ließ die wirtschaft­sliberale Politik die sozialen Unterschie­de wachsen, während Korruption und Klientelis­mus die Chancen auf sozialen Aufstieg weiter minderten.

Vermutlich hat die Mischung dieser Faktoren zu einer Zunahme der Gewalt gegen Frauen geführt. Eindeutig ist das Bild allerdings nicht, denn erst seit etwa zehn Jahren sorgen Frauen- und Bürgerrech­tsgruppen dafür, dass derartige Vorfälle bekannt werden. Bereits 1992 debattiert­e die ägyptische Öffentlich­keit über einen Fall, der sich tagsüber unter den Augen Tausender auf dem Ataba-Platz in Kairo zugetragen hatte. Eine Männergrup­pe hatte einer 23-Jährigen die Kleider vom Leib gerissen und sie vergewalti­gt. Zwei Verdächtig­e wurden elf Monate später freigespro­chen. Die ägyptische­n Behörden meldeten für das Jahr 1992 insgesamt 15 Vergewalti­gungen.

Ein strenger Vater oder Ehemann, die Befürchtun­g, als »entehrt« angesehen oder selbst wegen »Unzucht« verfolgt zu werden – für Frauen gibt es in den meisten islamische­n Ländern mehr Gründe als im Westen, sexualisie­rte Gewalt nicht anzuzeigen; entspreche­nd höher ist die Dunkelziff­er. Bei einer Befragung im Jahr 2013 gaben 99,3 Prozent der Ägypterinn­en an, mindestens einmal sexuell belästigt worden zu sein. Dank der Aktivitäte­n von Frauen- und Bürgerrech­tsgruppen werden sexuelle Übergriffe nun in Ägypten und vielen anderen islamische­n Staaten immerhin offiziell geächtet.

Das Egyptian Center for Women’s Rights befragte 2008 Männer. 62,4 Prozent der Befragten gaben an, mindestens einmal eine Frau sexuell belästigt zu haben. Die meisten rechtferti­gten dies mit angeblich »aufreizend­er« Kleidung und »provokativ­em« Make-up oder anderen vermeintli­chen Verstößen gegen die Konvention­en, andere bezeichnet­en ihren »Flirt« als freundlich­e Geste. Die Aussagen der Täter geben jedoch nicht unbedingt deren wirkliche Motive wieder. Es gibt viele Belege da- für, dass eine religiös korrekte Kleidung Frauen keineswegs schützt. Auch die Berufung auf den »Flirt« ist nicht glaubhaft, bei sexualisie­rter Gewalt geht es meist vor allem um Demütigung.

Zweifellos begünstigt es die Geschlecht­ertrennung, die einen alltäglich­en Umgang nur mit Mädchen und Frauen aus der eigenen Familie gestattet, Frauen in der Öffentlich­keit als Objekt zu sehen. Aber auch soziale Frustratio­n spielt eine Rolle. Als »aufreizend« wird Kleidung wohl weniger deshalb empfunden, weil sie gegen angebliche religiöse Gebote verstößt. Vielmehr wird sie offenbar mit »dem Westen« und Reichtum assoziiert, sie signalisie­rt dem Täter, dass es sich um eine Frau mit einem höheren sozialen Status handelt – einem Status, den er nicht erlangen kann, der ihm seiner Ansicht nach aber eher zusteht als jeder Frau. Islamistis­che Prediger fördern diese Haltung. Ghazali hatte der aus seiner Sicht gottgegebe­nen weiblichen Sexualität noch Respekt entgegenge­bracht und den Männern empfohlen, im Bett den Bedürfniss­en der Frauen zu genügen. Heute tritt der Hass auf Frauen hervor, ihre »unersättli­che« Sexualität wird politisier­t und als zu bekämpfend­es Übel, »westliche« Kleidung als Verschwöru­ng gegen den Islam dargestell­t.

Sexuelle Übergriffe von Männergrup­pen gehen in Marokko häufig von Straßenhän­dlern aus, die Opfer sind meist Frauen aus der Mittelschi­cht. Offenbar können viele Männer es nicht ertragen, dass eine Frau, was Einkommen und Status angeht, über ihnen steht. Religionss­pezifisch ist diese Haltung jedoch nicht. Bei der Gruppenver­gewaltigun­g Jyoti Singhs in Delhi im Jahr 2012 waren die Motive der Täter wahrschein­lich ähnlich. Auch ist Frauenhass keine un- vermeidlic­he Reaktion auf soziale Frustratio­n.

»Die Revolution findet nicht nur auf dem Tahrir-Platz statt, sie ist in jedem ägyptische­n Haus«, schrieb 2011 die ägyptische Bloggerin Fatma Emam. Die arabischen Revolten waren auch ein Kampf gegen das Patriarcha­t – und die Gewalt gegen Frauen ist ein Mittel der Konterrevo­lution. Die von Männergrup­pen verübten sexuellen Übergriffe auf dem Tahrir-Platz waren wahrschein­lich überwiegen­d staatlich gelenkt, nutzten aber ein reaktionär­es Frauenbild, um ein Bündnis mit dem Mob zu schmieden. Doch ob aus Sorge vor ausufernde­r Gewalt oder unter dem Druck der Frauen- und Bürgerrech­tsgruppen – 2014 wurde in Ägypten ein Gesetz eingeführt, das sexuelle Belästigun­g unter Strafe stellt. Seitdem ist das ägyptische Militärreg­ime Deutschlan­d im Hinblick auf die Gesetzgebu­ng einen Schritt voraus.

Die meisten sexuellen Übergriffe der Silvestern­acht in Köln liegen nach bisheriger Rechtsprec­hung unter der Schwelle der Strafbarke­it. Bestätigen sich die bisherigen Ermittlung­sergebniss­e, hat sich offenbar ein Mob überwiegen­d muslimisch­er Männer zusammenge­schlossen gegen »Wesen mit subversive­r Kraft, die man in der Defensive halten und ausschließ­en muss«. Ihr reaktionär­es Frauenbild enthält religionss­pezifische Elemente, die jedoch nicht ahistorisc­h und essentiali­stisch gesehen werden sollten. Die Enthemmung ist ein Ergebnis sozialer Verwerfung­en, auf die ein rechter Mob mit sexualisie­rter Gewalt reagiert, um seinen patriarcha­len Machtanspr­uch exemplaris­ch geltend zu machen, und wohl auch eine Abwehr der Herausford­erungen, die die arabischen Revolten für reaktionär­e Männer mit sich brachten.

»Frauen werden als eine Gefahr gesehen, als Wesen mit subversive­r Kraft, die man in der Defensive halten und ausschließ­en muss.«

Fatima Mernissi, Soziologin

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Fotos: 123rf
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Foto: 123rf/Aleksey Mnogosmysl­ov Die drei W zur Aufhebung der religiös-patriarcha­len Unterdrück­ung: der weibliche Körper, die Wumme, die westlichen Modeaccess­oires

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