Sind das antiislamische Waffen?
In der arabischen Welt ist der Druck auf Frauen seit den siebziger Jahren gewachsen. Sie haben sich an Regeln zu halten, die zuvor freimütig ignoriert wurden.
Die Botschaft des Koran, dass der Mann der Frau überlegen ist, ist die offenkundige Botschaft der menschlichen Geschichte«, urteilte der ägyptische Schriftsteller Abbas Mahmud al-Aqqad in seinem Buch »Die Frauen im Koran«. Diese Überlegenheit zeige sich bereits im Tierreich, wo die Weibchen gezwungen seien, »den Forderungen des Instinkts« der Männchen zu gehorchen. So sei es auch in der menschlichen Gesellschaft: »Die Unterwerfung der Frauen unter die männliche Eroberung ist eine der stärksten Quellen ihrer Lust.«
Al-Aqqad, der 1964 starb, war kein religiöser Hardliner, sondern Antifaschist und Abgeordneter der liberalen Wafd-Partei. Er referierte den Common Sense seiner Epoche – nicht allein in der islamischen Welt, sieht man vom oberflächlichen Bezug auf den Koran ab. Der projizierende Biologismus, die Metapher von Jäger und Beute, die Behauptung, dass es »in der Natur der Frau« läge, sich zu unterwerfen – all das war patriarchales Gemeingut, das bis heute auch in der westlichen Welt nicht verschwunden ist.
Aqqad wäre wohl auch längst vergessen worden, hätte die am 30. November vorigen Jahres verstorbene marokkanische Soziologin Fatima Mernissi ihn nicht in ihrem 1975 erschienenen Buch »Beyond the Veil« als Beispiel für die »explizite« islamische Theorie des Geschlechterverhältnisses erwähnt. Diese präge zwar das Bewusstsein, sei aber so etwas wie Camouflage für die »implizite« Haltung: In Wahrheit fürchteten die Männer die weibliche Sexualität. Für den mittelalterlichen Theologen Mohammed al-Ghazali, dessen Schriften zu den wichtigsten Grundlagen der sunnitischen Orthodoxie gehören, sei die Frau die Jägerin und der Mann die Beute. Nur strenge Maßnahmen, vor allem Geschlechtertrennung und verhüllende Kleidung, könnten die soziale Ordnung schützen. »Nach wie vor werden die Frauen als eine Gefahr gesehen, die es einzudämmen gilt, als Wesen mit subversiver Kraft, die man in der Defensive halten und ausschließen muss.«
Um das islamische Frauenbild geht es nicht. Historisch-kritisch betrachtet waren Geschlechtertrennung und Verhüllung improvisierte Maßnahmen zum Schutz der Frauen vor den Kriegern, die sich den Feldzügen des Propheten Mohammed anschlossen, nicht Regeln für die Ewigkeit. Die historische Überlieferung belegt, dass Frauen sich damals rege am öffentlichen Leben beteiligten, zuweilen auch in Führungspositionen wie Umm Waraqa, die das Gebet von Männern und Frauen leitete. Was wir heute als Islam bezeichnen, ist das Ergebnis der Entwicklung einer orthodoxen Theologie, die im 9. Jahrhundert begann und im 12. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen wurde. Es ist recht wahrscheinlich, dass die Dogmatisierung der Normen für die Geschlechterbeziehungen den Bedürfnissen einer Oberschicht von Großgrundbesitzern, Händlern und Bürokraten folgte. Die strikte Kontrolle der Frauen sichert die »Reinheit« der Erbfolge in einer patriarchalen Gesellschaft, in der ökonomische Beziehungen immer auch Familien- und Clanbeziehungen sind.
Dies hat noch heute Bedeutung, doch stehen diese Regeln nun im Widerspruch zu den Erfordernissen der kapitalistischen Modernisierung, aber auch zum Freiheitsstreben, das in den arabischen Revolten zum Ausdruck kam. Dass die »Realisierung des vollen Potenzials der arabischen Frauen eine unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung in allen arabischen Staaten« ist, stellte der Arab Human Development Report der UNO bereits 2005 fest. Doch zehn Jahre später belegen islamische Staaten fast alle der hintersten Plätze im Global Gender Gap Index. Ein unabwendbares religiös determiniertes Schicksal ist das nicht. Senegal mit einem muslimischen Bevölkerungsanteil von mehr als 90 Prozent schafft es immerhin auf Platz 72 und liegt damit vor den EU-Staaten Tschechien (81) und Griechenland (87).
Die vergleichsweise großen Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen im Senegal sind zum Teil auf die erkämpfte Demokratisierung, aber wohl auch auf die tolerantere religiöse Kultur des Landes zurückzuführen. Die meisten Senegalesen sind religiös, gehen aber davon aus, dass ein barmherziger Gott ihnen ihre Sünden verzeiht. Islamistische Gruppen agitieren allerdings auch im Senegal, und mehr Frauen tragen dort nun ein Kopftuch.
Die »Islamisierung«, die Zurschaustellung der Religiosität, vom öffentlichen Massengebet bis zur Verschleierung, ist eine relativ neue Erscheinung, die zunächst vor allem arabische Staaten prägte. Seit den 1970er Jahren wuchs der Einfluss oppositioneller islamistischer Gruppen, die Regierungen reagierten mit der Propagierung eines reaktionären Staatsislam. Diese Politisierung der Religion verstärkte den Druck auf die Frauen, Regeln zu befolgen, die zuvor freimütig ignoriert worden waren. Allerdings sind die Ergebnisse des Arab Human Development Report den technokratischen Führungsschichten nicht entgangen. So gab es Bestrebungen, die Frauenbildung zu fördern und Frauen in das Erwerbsleben zu integrieren. Gleichzeitig ließ die wirtschaftsliberale Politik die sozialen Unterschiede wachsen, während Korruption und Klientelismus die Chancen auf sozialen Aufstieg weiter minderten.
Vermutlich hat die Mischung dieser Faktoren zu einer Zunahme der Gewalt gegen Frauen geführt. Eindeutig ist das Bild allerdings nicht, denn erst seit etwa zehn Jahren sorgen Frauen- und Bürgerrechtsgruppen dafür, dass derartige Vorfälle bekannt werden. Bereits 1992 debattierte die ägyptische Öffentlichkeit über einen Fall, der sich tagsüber unter den Augen Tausender auf dem Ataba-Platz in Kairo zugetragen hatte. Eine Männergruppe hatte einer 23-Jährigen die Kleider vom Leib gerissen und sie vergewaltigt. Zwei Verdächtige wurden elf Monate später freigesprochen. Die ägyptischen Behörden meldeten für das Jahr 1992 insgesamt 15 Vergewaltigungen.
Ein strenger Vater oder Ehemann, die Befürchtung, als »entehrt« angesehen oder selbst wegen »Unzucht« verfolgt zu werden – für Frauen gibt es in den meisten islamischen Ländern mehr Gründe als im Westen, sexualisierte Gewalt nicht anzuzeigen; entsprechend höher ist die Dunkelziffer. Bei einer Befragung im Jahr 2013 gaben 99,3 Prozent der Ägypterinnen an, mindestens einmal sexuell belästigt worden zu sein. Dank der Aktivitäten von Frauen- und Bürgerrechtsgruppen werden sexuelle Übergriffe nun in Ägypten und vielen anderen islamischen Staaten immerhin offiziell geächtet.
Das Egyptian Center for Women’s Rights befragte 2008 Männer. 62,4 Prozent der Befragten gaben an, mindestens einmal eine Frau sexuell belästigt zu haben. Die meisten rechtfertigten dies mit angeblich »aufreizender« Kleidung und »provokativem« Make-up oder anderen vermeintlichen Verstößen gegen die Konventionen, andere bezeichneten ihren »Flirt« als freundliche Geste. Die Aussagen der Täter geben jedoch nicht unbedingt deren wirkliche Motive wieder. Es gibt viele Belege da- für, dass eine religiös korrekte Kleidung Frauen keineswegs schützt. Auch die Berufung auf den »Flirt« ist nicht glaubhaft, bei sexualisierter Gewalt geht es meist vor allem um Demütigung.
Zweifellos begünstigt es die Geschlechtertrennung, die einen alltäglichen Umgang nur mit Mädchen und Frauen aus der eigenen Familie gestattet, Frauen in der Öffentlichkeit als Objekt zu sehen. Aber auch soziale Frustration spielt eine Rolle. Als »aufreizend« wird Kleidung wohl weniger deshalb empfunden, weil sie gegen angebliche religiöse Gebote verstößt. Vielmehr wird sie offenbar mit »dem Westen« und Reichtum assoziiert, sie signalisiert dem Täter, dass es sich um eine Frau mit einem höheren sozialen Status handelt – einem Status, den er nicht erlangen kann, der ihm seiner Ansicht nach aber eher zusteht als jeder Frau. Islamistische Prediger fördern diese Haltung. Ghazali hatte der aus seiner Sicht gottgegebenen weiblichen Sexualität noch Respekt entgegengebracht und den Männern empfohlen, im Bett den Bedürfnissen der Frauen zu genügen. Heute tritt der Hass auf Frauen hervor, ihre »unersättliche« Sexualität wird politisiert und als zu bekämpfendes Übel, »westliche« Kleidung als Verschwörung gegen den Islam dargestellt.
Sexuelle Übergriffe von Männergruppen gehen in Marokko häufig von Straßenhändlern aus, die Opfer sind meist Frauen aus der Mittelschicht. Offenbar können viele Männer es nicht ertragen, dass eine Frau, was Einkommen und Status angeht, über ihnen steht. Religionsspezifisch ist diese Haltung jedoch nicht. Bei der Gruppenvergewaltigung Jyoti Singhs in Delhi im Jahr 2012 waren die Motive der Täter wahrscheinlich ähnlich. Auch ist Frauenhass keine un- vermeidliche Reaktion auf soziale Frustration.
»Die Revolution findet nicht nur auf dem Tahrir-Platz statt, sie ist in jedem ägyptischen Haus«, schrieb 2011 die ägyptische Bloggerin Fatma Emam. Die arabischen Revolten waren auch ein Kampf gegen das Patriarchat – und die Gewalt gegen Frauen ist ein Mittel der Konterrevolution. Die von Männergruppen verübten sexuellen Übergriffe auf dem Tahrir-Platz waren wahrscheinlich überwiegend staatlich gelenkt, nutzten aber ein reaktionäres Frauenbild, um ein Bündnis mit dem Mob zu schmieden. Doch ob aus Sorge vor ausufernder Gewalt oder unter dem Druck der Frauen- und Bürgerrechtsgruppen – 2014 wurde in Ägypten ein Gesetz eingeführt, das sexuelle Belästigung unter Strafe stellt. Seitdem ist das ägyptische Militärregime Deutschland im Hinblick auf die Gesetzgebung einen Schritt voraus.
Die meisten sexuellen Übergriffe der Silvesternacht in Köln liegen nach bisheriger Rechtsprechung unter der Schwelle der Strafbarkeit. Bestätigen sich die bisherigen Ermittlungsergebnisse, hat sich offenbar ein Mob überwiegend muslimischer Männer zusammengeschlossen gegen »Wesen mit subversiver Kraft, die man in der Defensive halten und ausschließen muss«. Ihr reaktionäres Frauenbild enthält religionsspezifische Elemente, die jedoch nicht ahistorisch und essentialistisch gesehen werden sollten. Die Enthemmung ist ein Ergebnis sozialer Verwerfungen, auf die ein rechter Mob mit sexualisierter Gewalt reagiert, um seinen patriarchalen Machtanspruch exemplarisch geltend zu machen, und wohl auch eine Abwehr der Herausforderungen, die die arabischen Revolten für reaktionäre Männer mit sich brachten.
»Frauen werden als eine Gefahr gesehen, als Wesen mit subversiver Kraft, die man in der Defensive halten und ausschließen muss.«
Fatima Mernissi, Soziologin