Pendel der Propaganda
Im Fall Lisa wird »der Westen« mit den eigenen PR-Techniken konfrontiert
Sie finden die Kampagne russischer Medien und Politiker rund um den Fall einer angeblich vergewaltigten 13jährigen Berlinerin hysterisch, ja abstoßend? Sie bezeichnen das Aufwiegeln von Bevölkerungsgruppen in einem fremden Land gegen die dortige Regierung als skandalös? Sie verurteilen, dass bei diesem russischen Medienfeldzug mit billigen Emotionen auf dunkelste menschliche LynchMob-Triebe abgezielt wird, dass Fakten eine untergeordnete Rolle spielen, dass »Bericht« und geifernder Kommentar unlauter vermischt werden? Sie finden, der russische Außenminister Sergej Lawrow sollte sich erst einmal um russische Missstände kümmern, bevor er »unserer« Polizei Vertuschung unterstellt und deutsche Nazis munitioniert? Dann ist Ihre Wut nachvollziehbar – auch wenn Sie sich »nur« über die russische Kopie der westlichen PR-Techniken echauffieren.
Auch im gerechten Zorn sollte man realisieren, dass die russische Gesellschaft schon seit etlichen Jahren unter permanentem Beschuss von Seiten fast aller westlicher Medien und Politiker steht, dass der (heuchlerisch) erhobene westliche Zeigefinger und das (oft verlogene) westliche Hineinreden in innere russische Angelegenheiten der Normalzustand sind. Das entwertet nicht pauschal die deutschen Medien, die abseits solcher Kampagnen auch hervorragende Arbeit leisten. Und das rechtfertigt schon gar keine ebenso verlogene Gegenbewegung von russischer Seite! Aber: Das aktuelle Erleben der durchsichtigen russischen PR-Retourkutsche kann für die Beurteilung der »eigenen« Propaganda lehrreich sein.
Wer den Russen nun Einmischung vorwirft, sollte bedenken: Es war »der Westen«, der Einmischungen in souveräne Staaten nicht nur prinzipiell gerechtfertigt, sondern zum »humanitären« Gebot erhoben hat. Es sind westliche Medien, in denen Michail Chodorkowski unverhohlene Putschpläne gegen den russischen Präsidenten schmieden darf, in denen Nationalisten wie Alexei Nawalny als ehrenhafte »Dissidenten« bezeichnet und Bombenanschläge auf die zivile Stromversorgung der Krim als »Aktivismus« verharmlost werden, und in denen die russische Justiz als grundsätzlich »vom Kreml gelenkt« bezeichnet wird. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sich deutsche Medien nicht in russische Angelegenheiten einmischen – sehr oft mit ebenso schwachen »Beweisen« wie nun die Russen, und ebenso billig emotionalisiert. Angesichts dessen ist die dünnhäutige Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf den penetranten Zeigefinger aus Moskau bemerkenswert.
Dass das westliche PropagandaPendel nun in Form einer russischen Kampagne auf »uns« zurückschlägt, ist einerseits unangenehm, andererseits eröffnet es die seltene Gelegenheit, die Wirkung von Auslands-PR ausnahmsweise am eigenen Leib zu erfahren: Wir fühlen uns nun von Lawrow und vom russischen Sender »Rossija 1« zu Recht provoziert. Doch wir können dadurch auch erahnen, wie es »die Russen« erleben, wenn fast täglich beleidigende/belehrende antirussische Tiraden der »Bild«-Zeitung, des »Deutschlandfunks« oder von Politikern wie Elmar Brok, Rebecca Harms oder ihren US-Kollegen auf sie niedergehen. Die Versammlungen der von russischen Medien aufgeputschten Russlanddeutschen vor dem Reichstag vermitteln eine leise Ahnung davon, wie es wohl Victor Janukowitsch ging, als westliche Journalisten die militanten Nationalisten vor dem ukrainischen Parlament auch noch anstachelten.
Diese Gelegenheit, die Wirkung feindlicher PR zu spüren, ist für uns so selten, weil (im Gegensatz zur »westlichen« Darstellung) die westlichen Propagandastrukturen (noch) um ein vielfaches machtvoller sind als die russischen, und sich letztere im Infokrieg in der Defensive befinden – was sie in keiner Weise vom Vorwurf der Lüge freispricht. Darum ist es auch kein Grund zum Jubeln, dass die Russen im PR-Bereich nun scheinbar aufholen – da es höchst wahrscheinlich nicht für mehr »Wahrheit« in der Welt sorgen wird. Es sollen hier nicht bloß die einen Lügner verurteilt werden, nur weil sie lauter lügen.
Ob die Gerichtsverfahren gegen Pussy Riot, Michail Chodorkowski, Alexei Nawalny oder Nadija Sawtschenko, ob die Morde an Anna Politkowskaja, Boris Nemzow oder Alexander Litwinenko, ob die Putin angelasteten Terroranschläge in Russland: Um der russischen Justiz in all diesen Fällen »Kreml-Hörigkeit«, finstere politische Motive oder Vertuschung zu unterstellen, brauchen viele deutsche Journalisten schon längst keine Beweise mehr. Ebensowenig wie für die Praxis, noch jeden Verurteilten als »Kreml-Kritiker« und noch jeden Schuft als »Putin-Vertrauten« zu bezeichnen. Das allein ist kein Grund, »den Kreml« von diesen Vorwürfen freizusprechen. Doch warum sollte die
Im Informationskrieg sind die Russen – entgegen der westlichen Darstellung – in der Defensive.
Unschuldsvermutung nur für »westliche« Politiker gelten? Und warum sind unbewiesene bis bizarre Verschwörungstheorien plötzlich salonfähig, nur weil sie im Zusammenhang mit geopolitischen Konkurrenten der USA gesponnen werden?
Die russischen Medienattacken sind nicht das einzige Pendel, das westliche Journalisten und Politiker angestoßen haben, und das nun zurückschlägt: Das staatliche Gewaltmonopol (fremder souveräner Staaten, natürlich nicht das deutsche) wurde in den letzten Jahren auch in deutschen Zeitungen so exzessiv verleumdet, dass dies natürlich auch deutsche Medienkonsumenten beeinflusst hat. Grob vereinfacht: Wer militante Proteste gegen die Regierungen in Venezuela, der Ukraine oder Syrien als »Demokratiebewegung« bezeichnet, wer Terroristen auf der Krim oder im Nahen Osten als »Aktivisten« verniedlicht, wer Bewaffnung rechtfertigt und den jeweiligen Regierungen das Recht auf Verteidigung abspricht – der braucht sich über Staatsverachtung, Militanz und Bürgerwehren in Deutschland nicht zu wundern.