Sanders vs. Trump
Sorgt der demokratische Sozialist Bernie Sanders bei den US-Demokraten für eine Überraschung gegen Hillary Clinton und das Establishment der Partei? Und was bedeutet es, dass bei den Republikanern der rassistische Milliardär Donald Trump in den Umfragen f
Im US-Bundesstaat Iowa finden am Montag die ersten Vorwahlen statt – bei den Demokraten gilt zwar Ex-Außenministerin Hillary Clinton als Favoritin für die Präsidentschaftskandidatur, doch der linke Kandidat Bernie Sanders rangiert in Umfragen mit Clinton Kopf an Kopf. »Wir können uns nicht länger eine von Milliardären dominierte Regierung leisten, die Arbeiterfamilien ignoriert«, sagt Sanders. Politikwissenschaftler Eathen Earle hat Sanders’ Wahlkampf beobachtet.
Mein Geburtsort liegt in North Carolina, aber meine Eltern stammen aus Vermont. In meiner Jugend fuhr ich deshalb in vielen Sommerferien die Ostküste entlang nordwärts, um unsere Familie in Burlington zu besuchen, der mit etwa 40 000 Einwohnern größten Stadt dieses Bundesstaats. Auf einem dieser Ausflüge, irgendwann Anfang der 1990er Jahre, hörte ich zum ersten Mal von Bernie Sanders und seiner spezifisch amerikanischen Vorstellung von einem demokratischem Sozialismus.
Vermont ist ein eigenartiges Fleckchen. Seine gerade mal 626 000 Einwohner, die es zum zweitkleinsten der 50 US-Bundesstaaten machen, wohnen ganz überwiegend in kleinen, über die Green Mountains verstreuten Landstädtchen. Die Vermonter gelten als selbstbewusste, entschieden auf ihre Unabhängigkeit bedachten und gelegentlich revolutionär aufbegehrenden Leute. Gegründet wurde ihr Staat während des Unabhängigkeitskrieges durch Milizionäre, die auf eigene Faust handelten. Später war er der erste, der die Sklaverei abschaffte und eine Schlüsselrolle in der sogenannten Underground Railroad spielte: Vermonter versteckten flüchtige Sklaven und schleusten sie über ihre Nordgrenze nach Kanada. In meiner Kindheit und Jugend hörte ich manche der Geschichten darüber, die gern als Beleg dafür erzählt werden, dass die Vermonter engagierte Bürgerinnen und Bürger sind, bei denen Ungerechtigkeit oder politische Doppelzüngigkeit schlecht ankommen.
Bernie Sanders, gebürtig in Brooklyn, betrat Vermonts politische Bühne erstmals 1980 und zwar gleich von links. Als Unabhängiger und erklärter demokratischer Sozialist kandidierte er damals für das Amt des Bürgermeisters von Burlington und gewann zehn Stimmen mehr als der – zuvor vier Mal wiedergewählte – Amtsinhaber. In der Folgezeit bestätigten die Burlingtoner ihn selbst drei Mal im Amt.
Seine Bürgermeisterzeit verschaffte Bernie das Renommee eines bekennenden Linken, vor allem aber auch eines fähigen Administrators. Er führte den ersten Frauenausschuss der Stadt ein, förderte die Entwick- lung von Arbeiterkooperativen und ergriff die Initiative zu einem der ersten und erfolgreichsten staatlich (vom Bundesstaat Vermont) finanzierten kommunalen Wohnungsbauexperimente in den Vereinigten Staaten. Als engagierter Linker lud Bernie beispielsweise Noam Chomsky zu einem Vortrag ins Rathaus ein und verhalf Burlington durch einen Besuch bei Daniel Ortega in Nicaragua zu einer sandinistischen Partnerstadt. Als fähiger Administrator sorgte er für einen ausgeglichenen Haushalt und trug seinen Teil dazu bei, dass Burlington heute allgemein als eine der freundlichsten und lebenswertesten Städte der USA gilt.
1990 bewarb Bernie sich dann um ein Kongressmandat, das er gewann. Fortan saß erstmals nach vier Jahrzehnten ein Unabhängiger im Washingtoner Repräsentantenhaus. Alsbald betrieb er die Bildung einer fortschrittlichen Abgeordnetenvereinigung, des Congressional Progressive Caucus – der bis zum heutigen Tage eine der wenigen linken Bastionen auf dem Capitol Hill geblieben ist. Sanders tadelte Politiker beider großen Parteien, wenn er sie für schuldig befand, der korrupten Logik Washingtons dienstbar zu sein. Er steht im Rufe eines ernsthaften, geradlinigen Politikers, der stets eindringlich darauf beharrt, dass das Land schwere Probleme habe, denen es sich stellen muss.
Auch wenn er gelegentlich ruppig, gar ungehobelt auftritt, zog doch niemand je in Zweifel, dass er seine Arbeit überaus ernst nimmt. Schon bald fand seine Stimme landesweit Gehör, ganz gleich, ob es um die Kritik an der Einkommensungleichheit und die Forderung nach einer öffentlichen Krankenversicherung für alle oder die Reform der Wahlkampffinanzierung und um die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen geht. Später gehörte er zu den ersten Kritikern des Irakkriegs und von inneramerikanischen Überwachungsprogrammen wie dem Patriot Act.
Im Grundsatz hat Bernie den von Anfang an eingeschlagenen Kurs beharrlich gehalten – den eines unerschrockenen Linken, der sich in seiner Arbeit von prinzipienfester Unabhängigkeit und der Entschlossenheit leiten lässt, etwas zu bewegen und das, was er anpackt, auch zu schaffen. Zurück in Vermont, das er seit 2006 als Senator vertritt, ist Bernie weiterhin unglaublich populär. So gewann er seine jüngste Wahl mit 71 Prozent der abgegebenen Stimmen und rangiert beständig unter den USPolitikern mit den höchsten Zustimmungswerten in ihrem Wahlkreis. Dass er aggressive Wahlwerbung verschmäht, ist ebenso bekannt wie sein manchen altmodisch erscheinendes Bemühen, Gemeinsamkeiten auch mit Politikern aus dem anderen Lager zu suchen. Beides hat seine Reputation nur weiter gefestigt.
Bernies bedeutendste Leistung – sein eigentliches Erfolgsgeheimnis – besteht in der Herbeiführung eines neuen politischen Konsenses im Staate Vermont. Natürlich gefällt er den meisten waschechten Linksliberalen, doch seine eigentliche Stärke erwächst aus der Zustimmung klein- städtischer weißer Arbeiterfamilien, denen man – zumindest in den vergangenen Jahrzehnten – kaum demokratisch-sozialistische Neigungen nachsagte.
Meine Familie besteht großenteils aus Friseurinnen und Friseuren, vermischt mit ein paar Krankenschwestern und Elektrikern. Wir sind eine Familie von Jägern und Katy-PerryFans. Und wir gehören zu denen, die glauben mussten, dass ihre Stimmen in der politischen Kultur des heutigen Amerika nicht zählen. Offen gestanden konnte erst Bernie Sanders meine Familie umstimmen. Fast alle Familienmitglieder haben vor, bei der anstehenden Vorwahl für Bernie Sanders als Präsidentschaftskandidat zu stimmen, obwohl sie sonst wohl bei jeder Wahl den Republikanern zuneigten. Bei meinen Vermont-Besu- chen reden wir normalerweise nicht über Politik, wenn aber doch, dann über Bernie. Ich habe noch meine Tante im Ohr: »Auch wenn ich nicht allem zustimme, was er sagt oder tut,« versicherte sie einmal, »weiß ich doch genau, dass er meint, was er sagt, und an das glaubt, was er tut. Ich weiß, dass er uns nie verkaufen und immer reinen Wein einschenken wird.«
Dass Senator Bernie Sanders sich darum bewirbt, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, erscheint immer weniger als Donquichotterie. Seine Kampagne hat die amerikanische Öffentlichkeit in eine ungewohnte, geradezu hektische Stimmung versetzt. Er zieht mehr Publikum an und erweckt größere Begeisterung als irgendein anderer Kandidat der einen oder anderen Partei. Im Laufe des Jahres 2015 flossen seiner Kampagne 73 Millionen Dollar von über einer Million Einzelspendern zu.
Seine wichtigste Gegenspielerin, die in dem Umfragen immer noch vorn liegt – Hillary Clinton, die frühere Außenministerin, Senatorin, First Lady im Weißen Haus und Favoritin des Demokratischen Parteiestablishments – stand bei ihrem Start vor gerade mal sechs Monaten mehr als irgendwer sonst im Rufe, niemand werde sie aufhalten können. Doch inzwischen klammert sie sich an einen Siebenpunktevorsprung in landesweiten Umfragen und muss sogar fürchten, in den ersten beiden Vorwahlstaaten, die seit jeher als Stimmungsbarometer für den Rest des Landes fungieren, zu unterliegen. Noch erstaunlicher ist, dass Bernie Sanders’ Kampagne so gut läuft, obwohl er weder Konzernspenden akzeptiert, noch von irgendeiner Gruppierung des Establishments unterstützt wird und unentwegt die Vorzüge des demokratischen Sozialismus herausposaunt. Seine Botschaft, dass dieses Land dringend einer politischen Revolution bedarf, lässt sich nicht überhören.
Da Bernie Jahrzehnte in der Politik verbracht hat, verwundert es nicht, dass seine Wahlplattform breit und sehr detailliert – man könnte fast sagen: faktenhuberisch – angelegt ist. Vielleicht zu detailliert, aber keinesfalls wirr: Dass ihm die Ungleichheit, die Amerikas Wirtschaft immer stärker kennzeichnet, die größten Sor- gen macht, daran lässt der demokratische Sozialist keinen Zweifel. Er schlägt eine Erhöhung des Mindestlohns von 7,25 Dollar auf 15 Dollar bis zum Jahr 2020 vor. Er verspricht, durch Infrastruktur- und Jugendförderungsprogramme der Bundesregierung Millionen Arbeitsplätze schaffen zu wollen. Er will die öffentliche Rentenversicherung ausbauen, für kostenlose Hochschulbildung an allen öffentlichen Universitäten sorgen und durch eine öffentliche Krankenversicherung allen Menschen in den Vereinigten Staaten zu umfassender Gesundheitsversorgung verhelfen. Wie diese Programme finanziert werden sollen, erklärt er ganz einfach: durch Steuererhöhungen für Reiche und Großunternehmen sowie die Besteuerung spekulativer Finanzgeschäfte.
Wenn er darüber spricht, wie Amerika zu einem der Länder mit der weltweit ausgeprägtesten Ungleichheit werden konnte, gilt Bernies Zorn besonders den Großbanken, die er für die Finanzkrise der Jahre 2007/08 verantwortlich macht. Doch der Hinweis auf seinen entschiedenen Wirtschaftspopulismus alleine kann nicht erklären, warum Millionen Menschen mittlerweile einer Art »BernieStimmung« verfallen – »Feel the Bern«, wie es der virale Hashtag formuliert, der zu einem der Slogans der Sanders-Kampagne geworden ist. Es liegt wohl eher daran, dass er so unverblümt ausspricht, wie es um das Land steht.
Die Verschuldung der Privathaushalte und die wirtschaftliche Ungleichheit haben historische Ausmaße erreicht, und die Generation, die jetzt ins Erwachsenenalter kommt, wurde durch den Irakkrieg und die Große Rezession sozialisiert. Aufgewachsen mit Mythen vom Amerikanischen Traum, sahen sie sich schon früh mit ganz anderen Realitäten konfrontiert – mit einer zunehmenden Mobilität nach unten, die außer den Eliten und einigen wenigen Glücklichen so gut wie jeden bedroht. Vor diesem Hintergrund begreift man, warum Bernies Kampagne so überraschend gut einschlägt: Weil er dieses System als kaputt, und zwar irreparabel kaputt bezeichnet – als »not just broken but fixed« in dem Sinne, dass es der Verewigung der Kontrollmacht einer kleinen, von po-
Sanders’ eigentliche Stärke erwächst aus der Zustimmung kleinstädtischer weißer Arbeiterfamilien, denen man – zumindest in den vergangenen Jahrzehnten – kaum demokratisch-sozialistische Neigungen nachsagte.
So oder so: Bernie Sanders’ Botschaft, dass wir eine politische Revolution brauchen, hat eine neue Generation junger Menschen erreicht.
litisch fest verankerten Kapitalinteressen bestimmten Elite dient.
Bernie ist überzeugt, dass die Wirtschaft Amerikas Demokratie gekapert hat, und das lässt ihn öffentlich über eine »politische Revolution« nachdenken. Fast in jeder Rede stößt er in dieses Horn, ohne je einen Zweifel daran zu lassen, dass weder er noch sonst irgendein Politiker allein für die notwendigen Veränderungen sorgen kann. In Bernies Version beginnt die politische Revolution damit, dass das amerikanische Volk möglichst massenhaft an die Urnen geht. In diesem Sinne fordert er auch die Beseitigung der rassistischen Wahlrechtseinschränkungen, wie die Republikaner sie betreiben. Ihm geht es darum, dass wir uns unsere Demokratie zurückholen und auf die in seinem Wahlprogramm propagierten Reformen pochen, die uns nachhaltigen Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen und den politischen Prozess verschaffen sollen.
Kaum verwunderlich haben die herrschenden Kräfte keine Freude an Bernie. Besonders beleidigt zeigt sich – bedauerlicherweise, aber auch nicht überraschend – das Parteiestablishment der Demokraten. Dabei kann dessen Kandidatin Hillary Clinton bislang 455 Unterstützungserklärungen von Gouverneuren und Kongressabgeordneten für sich verbuchen, verglichen mit drei für Bernie Sanders. 18 Gewerkschaften mit zwölf Millionen Mitgliedern haben sich für Clinton erklärt, während lediglich drei Gewerkschaften mit zusammen einer Million Mitgliedern Sanders unterstützen.
Die Wohlmeinendsten unter Clintons Anhängern dürften etwa wie folgt argumentieren: Egal welcher verrückte/gefährliche Strolch am Ende siegreich aus der Rauferei hervorgeht, als die sich der im Wrestling-Stil ausgetragene Vorwahlkampf der Republikaner darstellt – Hillary Clinton sei nun einmal diejenige, die diesen Burschen noch am ehesten schlagen könne. Außerdem sei es höchste Zeit, werden die Wohlmeinenden sagen, nach über zwei Jahrhunderten ununterbrochener Männerherrschaft endlich eine Frau ins Weiße Haus zu wählen.
Diesem Argumentationsgang würde ich entgegenhalten, dass Clinton viel zu viel von ebendem repräsentiert, was an unserem politischen System heute dysfunktional ist, als dass sie tatsächlich Abhilfe schaffen könnte. Sie ist der Wall Street so eng verbunden wie nur irgendein Politiker gleich welcher Partei. Sie hat für den Irakkrieg gestimmt und hält dem kriegerischen Falkenflügel einer Demokratischen Partei die Treue, der von der weithin diskreditierten Fahne des liberalen Interventionismus um keinen Preis lassen mag. Clinton ist politisch vor allem darauf geeicht, Macht als solche zu gewinnen, während Sanders über 30 Jahre hindurch in verschiedenen Wahlämtern konsequent zu seinen Wertmaßstäben gestanden hat.
Eine Frau ins Präsidentenamt zu wählen, wäre zweifellos ein Akt von hohem Symbolgehalt – ein potenziell historischer Vorgang, der sich insofern mit der Wahl Barack Obamas zum ersten schwarzen Präsidenten unseres Landes vor acht Jahren vergleichen ließe. Doch dessen Regierungszeit hat uns zugleich die Grenzen symbolischer Politik aufgezeigt: In diesen Jahren sind Durchschnittseinkommen und -vermögen der Schwarzen gesunken, während andererseits die Inhaftierungsraten scheinbar unaufhaltsam weiter steigen und LatinoEinwanderer in rekordverdächtigen Größenordnungen abgeschoben werden. Die harte politische Währung der Wahl eines Präsidenten, der über einen Plan und über das Mandat verfügt, die Art und Weise wie Washington – und unser Land insgesamt – funktioniert, substanziell zu verändern, wiegt bedeutend schwerer als solche bloß symbolischen Akte.
Wie kaum anders zu erwarten, haben die Debatten »der Linken«, wie ich sie verallgemeinernd nennen möchte, über diese Wahl in den letzten Monaten ziemlich hässliche Formen angenommen. Eine Zeit lang sorgte Bernies beharrliche Weigerung, negative Wahlkampftechniken anzuwenden – in Verbindung mit dem ursprünglich komfortablen Vorsprung Hillarys – für einen einigermaßen zivilen Verlauf. Doch mit dem Fortgang der Kampagne und der Verringerung ihres Vorsprungs sind Hillarys Anhänger in den Medien dazu übergegangen, Bernie-Unterstützer ziemlich wahllos als »Brocialists« abzustempeln, als eine Art sexistischer Macho-Linker.
Weiter links verkünden die üblichen Verdächtigen, Bernie sei gar nicht berufen, die wahre Revolution zu verfechten. Sie halten ihm eine ganze Litanei von Verfehlungen, ja geradezu Erbsünden vor, die grob gesagt alle auf den Vorwurf hinauslaufen, er habe sich nicht mit Haut und Haaren einer ganz bestimmten (und meiner Auffassung nach esoterischen) politischen Linie verschrieben. Manche sagen, er fungiere als eine Art Hirtenhund der Demokratischen Partei, der enttäuschte Jugendliche wie entlaufene Schafe in deren Hürden zurücktreibt – obwohl Bernie doch fast sein ganzes politisches Leben als Unabhängiger tätig war und jetzt für das Parteiestablishment so etwas wie der »Staatsfeind Nummer 1« geworden ist.
Andere wiederum können ihm nicht verzeihen, dass er sich fälschlich als demokratischer Sozialist ausgebe, wo er doch in Wahrheit Sozialdemokrat sei – was für eine Frechheit! Und schließlich gibt es noch jene, für die Bernie Persona non grata ist, weil er bei dieser oder jener außenpolitischen Abstimmung vermeintlich oder tatsächlich falsch entschied, also nicht besser als alle anderen sei. Dass er die Regimewechsel-Politik unseres Landes beharrlich kritisiert, zählt für sie nicht. Ebenso wenig, wie entschieden er die weitaus größere Bedrohung betont, die vom Klimawandel ausgeht, verglichen mit der in den Medien aggressiv herausgestellten Terrorismusgefahr.
Interessanter und bedeutsamer für den gegenwärtigen Stand der Dinge in der amerikanischen Politik ist eine Debatte, die auf der letzten Konferenz von »Netroots Nation«, einem wichtigen Jahrestreffen linker Kräfte, offen entbrannte. Aktivisten der Bewegung »Black Lives Matter« (BLM) unterbrachen dort eine Sanders-Rede, um auf die anhaltende Polizeige- walt gegen Schwarze hinzuweisen und entschiedenere Aktionspläne zur Überwindung des strukturellen Rassismus in den USA zu fordern. Sanders’ Reaktion auf diesen Vorstoß wurde von einigen abgetan als unangemessen im Ton und von oben herab. Dass Bernie daraufhin herausstrich, was er selbst in Sachen racial justice alles unternommen habe, und das Thema Rassismus in den Kontext seines auf die Verringerung der sozialen Ungleichheit zielenden wirtschaftspolitischen Programms einzuordnen versuchte, half ihm zunächst wenig. Eine Wochen danach unterbrach eine BLM-Gruppe aus Seattle erneut einen Sanders-Auftritt.
Unmittelbar nach diesem zweiten Vorfall stellte die Sanders-Kampagne eine (vermutlich nach der ersten Intervention entworfene) Agenda zur Gleichberechtigung der Schwarzen vor, der – als Geste der Zustimmung zu den Forderungen von »Black Lives Matter« und anderen Aktivisten – eine Namensliste der in letzter Zeit von der Polizei getöteten schwarzen Frauen und Männer voransteht. Diese neue Agenda hat den Beifall prominenter Stimmen aus der BLM-Bewegung gefunden.
Während die erste BLM-Aktion demonstrierte, wie zwei unterschiedliche, in ihren Zielen aber teilweise übereinstimmende progressive Bewegungen kritisch, doch letztlich produktiv aufeinanderstoßen können, zeigte demgegenüber die zweite, dass die beiden manchmal durch- aus aneinander vorbeireden. Bernie, 74 Jahre alt, weiß, ein jüdischer Mann aus dem zweitweißesten Staat Vermont (96,7 Prozent), erkannte nicht sofort die Dringlichkeit des Themas Rassengerechtigkeit. Die BLM-Aktivisten ihrerseits verhielten sich kurzsichtig, als sie die Szene zum Nachteil eines Menschen ausschlachteten, der – um das Mindeste zu sagen – sich stets als »weißer Bündnispartner« der Schwarzenbewegung erwiesen hat und schon 1963 an der Seite Martin Luther Kings marschierte.
Alles in allem stellt die Bernie/BLM-Geschichte eine für Sanders und seine Anhänger lehrreiche Erfahrung dar – und damit für die Linken insgesamt eine gute Nachricht. Ergänzend zu seiner Racial-JusticeAgenda hat Bernie mittlerweile wichtige Posten in seinem Wahlkampfteam mit Schwarzen und Latinos besetzt. Auch bemüht er sich sichtlich, dem anhaltenden Trend erschreckender Polizeigewalt gegen Schwarze die gebührende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu verschaffen. Zwar steht sein Bekanntheitsgrad in den Minderheiten-Communities immer noch weit hinter demjenigen Hillary Clintons zurück, doch sind seine Sympathiewerte und die ihm zugetrauten Abstimmungsergebnisse deutlich gewachsen.
Allgemeiner gesehen lassen sich diese Auseinandersetzungen und Entwicklungen als Bestandteil einer neuen Aufwärtsbewegung – vielleicht sogar einer neuen Generation – linker Aktivitäten in den Vereinigten Staaten auffassen. Die Sanders-Kampagne erreicht Millionen Menschen, die ein Präsidentschaftswahlkampf eher anregt, sich für Politik zu interessieren. Nicht minder wichtig ist allerdings, dass wir nicht in destruktive Grabenkämpfe verfallen und uns nicht von der Grundfrage unserer Zeit ablenken lassen: Wie lässt sich das politische und ökonomische System der Vereinigten Staaten dahingehend umgestalten, dass es für jede und jeden in diesem Lande da ist und zugleich für den Rest der Welt mehr Nutzen und weniger Schaden bewirkt?
Bernie Sanders tut, was er kann, damit wir diese gewaltige Aufgabe ernsthaft ins Auge fassen, ohne den geringsten Zweifel daran zu lassen, dass sie nicht von ihm allein gelöst werden kann. Vor allem deshalb unterstütze ich Bernie und finde, alle sollten das tun. Niemand ist besser als er dafür positioniert, eine breite Bewegung in Gang zu bringen, die zum Machtfaktor werden kann, und zugleich neue – auf Klassensolidarität und der Überwindung ethnischer Spaltungen basierende – Bündnisse zusammenzuführen, also das Gegenteil der Spaltungen, in welche die Konzerninteressen uns treiben.
Sanders hat es in Vermont vorgeführt, vielleicht nicht immer auf dem Erwartungsniveau sozialistischer Höhenflüge, aber auf unzweifelhaft transformative und nachhaltige Weise. Und wenn wir uns den Zustand der amerikanischen Politik vor Augen führen – der es einem Rechtspopulisten wie Donald Trump gestattet, mit billigem Washington-Bashing einen beträchtlichen Teil des republikanischen Elektorats in seinen Bann zu ziehen –, wissen wir, was wir zu tun haben: Nichts ist dringlicher, als für eine neue Neue Mehrheit in diesem Lande zu kämpfen, die auf Zusammengehörigkeit gründet und nicht auf Hass.
So tief die Risse sind, die der gegenwärtige Vorwahlkampf in beiden großen Parteien offenlegt, so deutlich macht er auch, dass ein noch viel tieferer kultureller Gegensatz zwischen dem konservativen und dem progressiven Lager unser Land zerreißt. Niemand scheint sich etwas Schrecklicheres vorstellen zu können als die Wahl eines Politikers der Gegenseite ins Weiße Haus. Über den ökonomischen und politischen Wandel hinaus, den Bernie propagiert, steht er auch für die Möglichkeit, unser tief gespaltenes Gemeinwesen im 21. Jahrhundert wieder zu einen. Dass ein Präsident Bernie Sanders vorstellbar ist, gibt uns eine – wenn auch noch unvollständige – Wegbeschreibung an die Hand, wie wir der kulturellen und politischen Zwangslage, in der wir stecken, entkommen können.
Als wir zuletzt in Vermont waren, besuchten meine argentinische Frau und ich meine 90-jährige Großmutter, die ihr ganzes Leben in dem kleinen Staat verbracht hat und sich lebhaft für Golf und Talkshow-Politik interessiert. Wie nicht anders zu erwarten, kamen wir auf den Wahlkampf zu sprechen, und sie sagte, einer ihrer Söhne – mein Onkel – versuche, sie für Bernie zu gewinnen. Sie blieb unentschlossen. Sie kennt Bernie seit Jahrzehnten, mag ihn und traut seinem Urteil, aber sie möchte auch unbedingt eine Frau im Weißen Haus sehen, bevor sie stirbt. Das Argument ist einfach, und es ist stark. Ich nehme es sehr ernst.
Meine Frau widersprach: In dem Land, aus dem sie kommt, habe jetzt fast zehn Jahre lang eine Frau als Präsidentin regiert – Cristina Kirchner, eine Progressive. Wie groß der Schritt auch sein möge, den die USA mit der Wahl einer Frau zur Präsidentin täten – was wäre er im Vergleich zur Wahl eines sozialistischen Präsidenten im mächtigsten Land der kapitalistischen Welt? Moment mal, rief meine Großmutter – weniger misstrauisch als den Staub von einer Idee, die sie lange Zeit nicht erwogen hatte, abschüttelnd – seid ihr beide etwa Sozialisten? Wir sahen einander an und zögerten einen Augenblick lang, bis meine Frau antwortete: Yeah – wenn’s weiter nichts braucht, um Sozialist zu sein, dann sind wir wohl welche.
Bei meinem nächsten Familienbesuch wird Vermonts jüngster Beitrag zum Gang der amerikanischen Geschichte, hoffe ich, Anlass zum Feiern geben, im Fall der Fälle sogar dazu, einander zur Wahl des ersten demokratisch-sozialistischen Präsidenten zu beglückwünschen.
Aber auch wenn Bernie verliert, wird seine Kampagne, wie ich meine, dennoch als Erfolg zu werten sein: Weil sie vorstellbar und sinnlich erfahrbar gemacht hat, dass wir in eine neue Ära progressiver Politik eintreten können. So oder so hat Bernies Botschaft, dass wir eine politische Revolution brauchen, eine neue Generation junger Menschen erreicht – und damit ein Fundament gelegt, auf dem alle, die eine bessere Zukunft erstreben, aufbauen können.