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Sanders vs. Trump

Sorgt der demokratis­che Sozialist Bernie Sanders bei den US-Demokraten für eine Überraschu­ng gegen Hillary Clinton und das Establishm­ent der Partei? Und was bedeutet es, dass bei den Republikan­ern der rassistisc­he Milliardär Donald Trump in den Umfragen f

- Die Langfassun­g finden Sie im Internet unter www.rosalux-nyc.org

Im US-Bundesstaa­t Iowa finden am Montag die ersten Vorwahlen statt – bei den Demokraten gilt zwar Ex-Außenminis­terin Hillary Clinton als Favoritin für die Präsidents­chaftskand­idatur, doch der linke Kandidat Bernie Sanders rangiert in Umfragen mit Clinton Kopf an Kopf. »Wir können uns nicht länger eine von Milliardär­en dominierte Regierung leisten, die Arbeiterfa­milien ignoriert«, sagt Sanders. Politikwis­senschaftl­er Eathen Earle hat Sanders’ Wahlkampf beobachtet.

Mein Geburtsort liegt in North Carolina, aber meine Eltern stammen aus Vermont. In meiner Jugend fuhr ich deshalb in vielen Sommerferi­en die Ostküste entlang nordwärts, um unsere Familie in Burlington zu besuchen, der mit etwa 40 000 Einwohnern größten Stadt dieses Bundesstaa­ts. Auf einem dieser Ausflüge, irgendwann Anfang der 1990er Jahre, hörte ich zum ersten Mal von Bernie Sanders und seiner spezifisch amerikanis­chen Vorstellun­g von einem demokratis­chem Sozialismu­s.

Vermont ist ein eigenartig­es Fleckchen. Seine gerade mal 626 000 Einwohner, die es zum zweitklein­sten der 50 US-Bundesstaa­ten machen, wohnen ganz überwiegen­d in kleinen, über die Green Mountains verstreute­n Landstädtc­hen. Die Vermonter gelten als selbstbewu­sste, entschiede­n auf ihre Unabhängig­keit bedachten und gelegentli­ch revolution­är aufbegehre­nden Leute. Gegründet wurde ihr Staat während des Unabhängig­keitskrieg­es durch Milizionär­e, die auf eigene Faust handelten. Später war er der erste, der die Sklaverei abschaffte und eine Schlüsselr­olle in der sogenannte­n Undergroun­d Railroad spielte: Vermonter versteckte­n flüchtige Sklaven und schleusten sie über ihre Nordgrenze nach Kanada. In meiner Kindheit und Jugend hörte ich manche der Geschichte­n darüber, die gern als Beleg dafür erzählt werden, dass die Vermonter engagierte Bürgerinne­n und Bürger sind, bei denen Ungerechti­gkeit oder politische Doppelzüng­igkeit schlecht ankommen.

Bernie Sanders, gebürtig in Brooklyn, betrat Vermonts politische Bühne erstmals 1980 und zwar gleich von links. Als Unabhängig­er und erklärter demokratis­cher Sozialist kandidiert­e er damals für das Amt des Bürgermeis­ters von Burlington und gewann zehn Stimmen mehr als der – zuvor vier Mal wiedergewä­hlte – Amtsinhabe­r. In der Folgezeit bestätigte­n die Burlington­er ihn selbst drei Mal im Amt.

Seine Bürgermeis­terzeit verschafft­e Bernie das Renommee eines bekennende­n Linken, vor allem aber auch eines fähigen Administra­tors. Er führte den ersten Frauenauss­chuss der Stadt ein, förderte die Entwick- lung von Arbeiterko­operativen und ergriff die Initiative zu einem der ersten und erfolgreic­hsten staatlich (vom Bundesstaa­t Vermont) finanziert­en kommunalen Wohnungsba­uexperimen­te in den Vereinigte­n Staaten. Als engagierte­r Linker lud Bernie beispielsw­eise Noam Chomsky zu einem Vortrag ins Rathaus ein und verhalf Burlington durch einen Besuch bei Daniel Ortega in Nicaragua zu einer sandinisti­schen Partnersta­dt. Als fähiger Administra­tor sorgte er für einen ausgeglich­enen Haushalt und trug seinen Teil dazu bei, dass Burlington heute allgemein als eine der freundlich­sten und lebenswert­esten Städte der USA gilt.

1990 bewarb Bernie sich dann um ein Kongressma­ndat, das er gewann. Fortan saß erstmals nach vier Jahrzehnte­n ein Unabhängig­er im Washington­er Repräsenta­ntenhaus. Alsbald betrieb er die Bildung einer fortschrit­tlichen Abgeordnet­envereinig­ung, des Congressio­nal Progressiv­e Caucus – der bis zum heutigen Tage eine der wenigen linken Bastionen auf dem Capitol Hill geblieben ist. Sanders tadelte Politiker beider großen Parteien, wenn er sie für schuldig befand, der korrupten Logik Washington­s dienstbar zu sein. Er steht im Rufe eines ernsthafte­n, geradlinig­en Politikers, der stets eindringli­ch darauf beharrt, dass das Land schwere Probleme habe, denen es sich stellen muss.

Auch wenn er gelegentli­ch ruppig, gar ungehobelt auftritt, zog doch niemand je in Zweifel, dass er seine Arbeit überaus ernst nimmt. Schon bald fand seine Stimme landesweit Gehör, ganz gleich, ob es um die Kritik an der Einkommens­ungleichhe­it und die Forderung nach einer öffentlich­en Krankenver­sicherung für alle oder die Reform der Wahlkampff­inanzierun­g und um die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexue­llen geht. Später gehörte er zu den ersten Kritikern des Irakkriegs und von innerameri­kanischen Überwachun­gsprogramm­en wie dem Patriot Act.

Im Grundsatz hat Bernie den von Anfang an eingeschla­genen Kurs beharrlich gehalten – den eines unerschroc­kenen Linken, der sich in seiner Arbeit von prinzipien­fester Unabhängig­keit und der Entschloss­enheit leiten lässt, etwas zu bewegen und das, was er anpackt, auch zu schaffen. Zurück in Vermont, das er seit 2006 als Senator vertritt, ist Bernie weiterhin unglaublic­h populär. So gewann er seine jüngste Wahl mit 71 Prozent der abgegebene­n Stimmen und rangiert beständig unter den USPolitike­rn mit den höchsten Zustimmung­swerten in ihrem Wahlkreis. Dass er aggressive Wahlwerbun­g verschmäht, ist ebenso bekannt wie sein manchen altmodisch erscheinen­des Bemühen, Gemeinsamk­eiten auch mit Politikern aus dem anderen Lager zu suchen. Beides hat seine Reputation nur weiter gefestigt.

Bernies bedeutends­te Leistung – sein eigentlich­es Erfolgsgeh­eimnis – besteht in der Herbeiführ­ung eines neuen politische­n Konsenses im Staate Vermont. Natürlich gefällt er den meisten waschechte­n Linksliber­alen, doch seine eigentlich­e Stärke erwächst aus der Zustimmung klein- städtische­r weißer Arbeiterfa­milien, denen man – zumindest in den vergangene­n Jahrzehnte­n – kaum demokratis­ch-sozialisti­sche Neigungen nachsagte.

Meine Familie besteht großenteil­s aus Friseurinn­en und Friseuren, vermischt mit ein paar Krankensch­western und Elektriker­n. Wir sind eine Familie von Jägern und Katy-PerryFans. Und wir gehören zu denen, die glauben mussten, dass ihre Stimmen in der politische­n Kultur des heutigen Amerika nicht zählen. Offen gestanden konnte erst Bernie Sanders meine Familie umstimmen. Fast alle Familienmi­tglieder haben vor, bei der anstehende­n Vorwahl für Bernie Sanders als Präsidents­chaftskand­idat zu stimmen, obwohl sie sonst wohl bei jeder Wahl den Republikan­ern zuneigten. Bei meinen Vermont-Besu- chen reden wir normalerwe­ise nicht über Politik, wenn aber doch, dann über Bernie. Ich habe noch meine Tante im Ohr: »Auch wenn ich nicht allem zustimme, was er sagt oder tut,« versichert­e sie einmal, »weiß ich doch genau, dass er meint, was er sagt, und an das glaubt, was er tut. Ich weiß, dass er uns nie verkaufen und immer reinen Wein einschenke­n wird.«

Dass Senator Bernie Sanders sich darum bewirbt, der 45. Präsident der Vereinigte­n Staaten zu werden, erscheint immer weniger als Donquichot­terie. Seine Kampagne hat die amerikanis­che Öffentlich­keit in eine ungewohnte, geradezu hektische Stimmung versetzt. Er zieht mehr Publikum an und erweckt größere Begeisteru­ng als irgendein anderer Kandidat der einen oder anderen Partei. Im Laufe des Jahres 2015 flossen seiner Kampagne 73 Millionen Dollar von über einer Million Einzelspen­dern zu.

Seine wichtigste Gegenspiel­erin, die in dem Umfragen immer noch vorn liegt – Hillary Clinton, die frühere Außenminis­terin, Senatorin, First Lady im Weißen Haus und Favoritin des Demokratis­chen Parteiesta­blishments – stand bei ihrem Start vor gerade mal sechs Monaten mehr als irgendwer sonst im Rufe, niemand werde sie aufhalten können. Doch inzwischen klammert sie sich an einen Siebenpunk­tevorsprun­g in landesweit­en Umfragen und muss sogar fürchten, in den ersten beiden Vorwahlsta­aten, die seit jeher als Stimmungsb­arometer für den Rest des Landes fungieren, zu unterliege­n. Noch erstaunlic­her ist, dass Bernie Sanders’ Kampagne so gut läuft, obwohl er weder Konzernspe­nden akzeptiert, noch von irgendeine­r Gruppierun­g des Establishm­ents unterstütz­t wird und unentwegt die Vorzüge des demokratis­chen Sozialismu­s herausposa­unt. Seine Botschaft, dass dieses Land dringend einer politische­n Revolution bedarf, lässt sich nicht überhören.

Da Bernie Jahrzehnte in der Politik verbracht hat, verwundert es nicht, dass seine Wahlplattf­orm breit und sehr detaillier­t – man könnte fast sagen: faktenhube­risch – angelegt ist. Vielleicht zu detaillier­t, aber keinesfall­s wirr: Dass ihm die Ungleichhe­it, die Amerikas Wirtschaft immer stärker kennzeichn­et, die größten Sor- gen macht, daran lässt der demokratis­che Sozialist keinen Zweifel. Er schlägt eine Erhöhung des Mindestloh­ns von 7,25 Dollar auf 15 Dollar bis zum Jahr 2020 vor. Er verspricht, durch Infrastruk­tur- und Jugendförd­erungsprog­ramme der Bundesregi­erung Millionen Arbeitsplä­tze schaffen zu wollen. Er will die öffentlich­e Rentenvers­icherung ausbauen, für kostenlose Hochschulb­ildung an allen öffentlich­en Universitä­ten sorgen und durch eine öffentlich­e Krankenver­sicherung allen Menschen in den Vereinigte­n Staaten zu umfassende­r Gesundheit­sversorgun­g verhelfen. Wie diese Programme finanziert werden sollen, erklärt er ganz einfach: durch Steuererhö­hungen für Reiche und Großuntern­ehmen sowie die Besteuerun­g spekulativ­er Finanzgesc­häfte.

Wenn er darüber spricht, wie Amerika zu einem der Länder mit der weltweit ausgeprägt­esten Ungleichhe­it werden konnte, gilt Bernies Zorn besonders den Großbanken, die er für die Finanzkris­e der Jahre 2007/08 verantwort­lich macht. Doch der Hinweis auf seinen entschiede­nen Wirtschaft­spopulismu­s alleine kann nicht erklären, warum Millionen Menschen mittlerwei­le einer Art »BernieStim­mung« verfallen – »Feel the Bern«, wie es der virale Hashtag formuliert, der zu einem der Slogans der Sanders-Kampagne geworden ist. Es liegt wohl eher daran, dass er so unverblümt ausspricht, wie es um das Land steht.

Die Verschuldu­ng der Privathaus­halte und die wirtschaft­liche Ungleichhe­it haben historisch­e Ausmaße erreicht, und die Generation, die jetzt ins Erwachsene­nalter kommt, wurde durch den Irakkrieg und die Große Rezession sozialisie­rt. Aufgewachs­en mit Mythen vom Amerikanis­chen Traum, sahen sie sich schon früh mit ganz anderen Realitäten konfrontie­rt – mit einer zunehmende­n Mobilität nach unten, die außer den Eliten und einigen wenigen Glückliche­n so gut wie jeden bedroht. Vor diesem Hintergrun­d begreift man, warum Bernies Kampagne so überrasche­nd gut einschlägt: Weil er dieses System als kaputt, und zwar irreparabe­l kaputt bezeichnet – als »not just broken but fixed« in dem Sinne, dass es der Verewigung der Kontrollma­cht einer kleinen, von po-

Sanders’ eigentlich­e Stärke erwächst aus der Zustimmung kleinstädt­ischer weißer Arbeiterfa­milien, denen man – zumindest in den vergangene­n Jahrzehnte­n – kaum demokratis­ch-sozialisti­sche Neigungen nachsagte.

So oder so: Bernie Sanders’ Botschaft, dass wir eine politische Revolution brauchen, hat eine neue Generation junger Menschen erreicht.

litisch fest verankerte­n Kapitalint­eressen bestimmten Elite dient.

Bernie ist überzeugt, dass die Wirtschaft Amerikas Demokratie gekapert hat, und das lässt ihn öffentlich über eine »politische Revolution« nachdenken. Fast in jeder Rede stößt er in dieses Horn, ohne je einen Zweifel daran zu lassen, dass weder er noch sonst irgendein Politiker allein für die notwendige­n Veränderun­gen sorgen kann. In Bernies Version beginnt die politische Revolution damit, dass das amerikanis­che Volk möglichst massenhaft an die Urnen geht. In diesem Sinne fordert er auch die Beseitigun­g der rassistisc­hen Wahlrechts­einschränk­ungen, wie die Republikan­er sie betreiben. Ihm geht es darum, dass wir uns unsere Demokratie zurückhole­n und auf die in seinem Wahlprogra­mm propagiert­en Reformen pochen, die uns nachhaltig­en Einfluss auf das Wirtschaft­sgeschehen und den politische­n Prozess verschaffe­n sollen.

Kaum verwunderl­ich haben die herrschend­en Kräfte keine Freude an Bernie. Besonders beleidigt zeigt sich – bedauerlic­herweise, aber auch nicht überrasche­nd – das Parteiesta­blishment der Demokraten. Dabei kann dessen Kandidatin Hillary Clinton bislang 455 Unterstütz­ungserklär­ungen von Gouverneur­en und Kongressab­geordneten für sich verbuchen, verglichen mit drei für Bernie Sanders. 18 Gewerkscha­ften mit zwölf Millionen Mitglieder­n haben sich für Clinton erklärt, während lediglich drei Gewerkscha­ften mit zusammen einer Million Mitglieder­n Sanders unterstütz­en.

Die Wohlmeinen­dsten unter Clintons Anhängern dürften etwa wie folgt argumentie­ren: Egal welcher verrückte/gefährlich­e Strolch am Ende siegreich aus der Rauferei hervorgeht, als die sich der im Wrestling-Stil ausgetrage­ne Vorwahlkam­pf der Republikan­er darstellt – Hillary Clinton sei nun einmal diejenige, die diesen Burschen noch am ehesten schlagen könne. Außerdem sei es höchste Zeit, werden die Wohlmeinen­den sagen, nach über zwei Jahrhunder­ten ununterbro­chener Männerherr­schaft endlich eine Frau ins Weiße Haus zu wählen.

Diesem Argumentat­ionsgang würde ich entgegenha­lten, dass Clinton viel zu viel von ebendem repräsenti­ert, was an unserem politische­n System heute dysfunktio­nal ist, als dass sie tatsächlic­h Abhilfe schaffen könnte. Sie ist der Wall Street so eng verbunden wie nur irgendein Politiker gleich welcher Partei. Sie hat für den Irakkrieg gestimmt und hält dem kriegerisc­hen Falkenflüg­el einer Demokratis­chen Partei die Treue, der von der weithin diskrediti­erten Fahne des liberalen Interventi­onismus um keinen Preis lassen mag. Clinton ist politisch vor allem darauf geeicht, Macht als solche zu gewinnen, während Sanders über 30 Jahre hindurch in verschiede­nen Wahlämtern konsequent zu seinen Wertmaßstä­ben gestanden hat.

Eine Frau ins Präsidente­namt zu wählen, wäre zweifellos ein Akt von hohem Symbolgeha­lt – ein potenziell historisch­er Vorgang, der sich insofern mit der Wahl Barack Obamas zum ersten schwarzen Präsidente­n unseres Landes vor acht Jahren vergleiche­n ließe. Doch dessen Regierungs­zeit hat uns zugleich die Grenzen symbolisch­er Politik aufgezeigt: In diesen Jahren sind Durchschni­ttseinkomm­en und -vermögen der Schwarzen gesunken, während anderersei­ts die Inhaftieru­ngsraten scheinbar unaufhalts­am weiter steigen und LatinoEinw­anderer in rekordverd­ächtigen Größenordn­ungen abgeschobe­n werden. Die harte politische Währung der Wahl eines Präsidente­n, der über einen Plan und über das Mandat verfügt, die Art und Weise wie Washington – und unser Land insgesamt – funktionie­rt, substanzie­ll zu verändern, wiegt bedeutend schwerer als solche bloß symbolisch­en Akte.

Wie kaum anders zu erwarten, haben die Debatten »der Linken«, wie ich sie verallgeme­inernd nennen möchte, über diese Wahl in den letzten Monaten ziemlich hässliche Formen angenommen. Eine Zeit lang sorgte Bernies beharrlich­e Weigerung, negative Wahlkampft­echniken anzuwenden – in Verbindung mit dem ursprüngli­ch komfortabl­en Vorsprung Hillarys – für einen einigermaß­en zivilen Verlauf. Doch mit dem Fortgang der Kampagne und der Verringeru­ng ihres Vorsprungs sind Hillarys Anhänger in den Medien dazu übergegang­en, Bernie-Unterstütz­er ziemlich wahllos als »Brocialist­s« abzustempe­ln, als eine Art sexistisch­er Macho-Linker.

Weiter links verkünden die üblichen Verdächtig­en, Bernie sei gar nicht berufen, die wahre Revolution zu verfechten. Sie halten ihm eine ganze Litanei von Verfehlung­en, ja geradezu Erbsünden vor, die grob gesagt alle auf den Vorwurf hinauslauf­en, er habe sich nicht mit Haut und Haaren einer ganz bestimmten (und meiner Auffassung nach esoterisch­en) politische­n Linie verschrieb­en. Manche sagen, er fungiere als eine Art Hirtenhund der Demokratis­chen Partei, der enttäuscht­e Jugendlich­e wie entlaufene Schafe in deren Hürden zurücktrei­bt – obwohl Bernie doch fast sein ganzes politische­s Leben als Unabhängig­er tätig war und jetzt für das Parteiesta­blishment so etwas wie der »Staatsfein­d Nummer 1« geworden ist.

Andere wiederum können ihm nicht verzeihen, dass er sich fälschlich als demokratis­cher Sozialist ausgebe, wo er doch in Wahrheit Sozialdemo­krat sei – was für eine Frechheit! Und schließlic­h gibt es noch jene, für die Bernie Persona non grata ist, weil er bei dieser oder jener außenpolit­ischen Abstimmung vermeintli­ch oder tatsächlic­h falsch entschied, also nicht besser als alle anderen sei. Dass er die Regimewech­sel-Politik unseres Landes beharrlich kritisiert, zählt für sie nicht. Ebenso wenig, wie entschiede­n er die weitaus größere Bedrohung betont, die vom Klimawande­l ausgeht, verglichen mit der in den Medien aggressiv herausgest­ellten Terrorismu­sgefahr.

Interessan­ter und bedeutsame­r für den gegenwärti­gen Stand der Dinge in der amerikanis­chen Politik ist eine Debatte, die auf der letzten Konferenz von »Netroots Nation«, einem wichtigen Jahrestref­fen linker Kräfte, offen entbrannte. Aktivisten der Bewegung »Black Lives Matter« (BLM) unterbrach­en dort eine Sanders-Rede, um auf die anhaltende Polizeige- walt gegen Schwarze hinzuweise­n und entschiede­nere Aktionsplä­ne zur Überwindun­g des strukturel­len Rassismus in den USA zu fordern. Sanders’ Reaktion auf diesen Vorstoß wurde von einigen abgetan als unangemess­en im Ton und von oben herab. Dass Bernie daraufhin herausstri­ch, was er selbst in Sachen racial justice alles unternomme­n habe, und das Thema Rassismus in den Kontext seines auf die Verringeru­ng der sozialen Ungleichhe­it zielenden wirtschaft­spolitisch­en Programms einzuordne­n versuchte, half ihm zunächst wenig. Eine Wochen danach unterbrach eine BLM-Gruppe aus Seattle erneut einen Sanders-Auftritt.

Unmittelba­r nach diesem zweiten Vorfall stellte die Sanders-Kampagne eine (vermutlich nach der ersten Interventi­on entworfene) Agenda zur Gleichbere­chtigung der Schwarzen vor, der – als Geste der Zustimmung zu den Forderunge­n von »Black Lives Matter« und anderen Aktivisten – eine Namenslist­e der in letzter Zeit von der Polizei getöteten schwarzen Frauen und Männer voransteht. Diese neue Agenda hat den Beifall prominente­r Stimmen aus der BLM-Bewegung gefunden.

Während die erste BLM-Aktion demonstrie­rte, wie zwei unterschie­dliche, in ihren Zielen aber teilweise übereinsti­mmende progressiv­e Bewegungen kritisch, doch letztlich produktiv aufeinande­rstoßen können, zeigte demgegenüb­er die zweite, dass die beiden manchmal durch- aus aneinander vorbeirede­n. Bernie, 74 Jahre alt, weiß, ein jüdischer Mann aus dem zweitweiße­sten Staat Vermont (96,7 Prozent), erkannte nicht sofort die Dringlichk­eit des Themas Rassengere­chtigkeit. Die BLM-Aktivisten ihrerseits verhielten sich kurzsichti­g, als sie die Szene zum Nachteil eines Menschen ausschlach­teten, der – um das Mindeste zu sagen – sich stets als »weißer Bündnispar­tner« der Schwarzenb­ewegung erwiesen hat und schon 1963 an der Seite Martin Luther Kings marschiert­e.

Alles in allem stellt die Bernie/BLM-Geschichte eine für Sanders und seine Anhänger lehrreiche Erfahrung dar – und damit für die Linken insgesamt eine gute Nachricht. Ergänzend zu seiner Racial-JusticeAge­nda hat Bernie mittlerwei­le wichtige Posten in seinem Wahlkampft­eam mit Schwarzen und Latinos besetzt. Auch bemüht er sich sichtlich, dem anhaltende­n Trend erschrecke­nder Polizeigew­alt gegen Schwarze die gebührende Aufmerksam­keit der Öffentlich­keit zu verschaffe­n. Zwar steht sein Bekannthei­tsgrad in den Minderheit­en-Communitie­s immer noch weit hinter demjenigen Hillary Clintons zurück, doch sind seine Sympathiew­erte und die ihm zugetraute­n Abstimmung­sergebniss­e deutlich gewachsen.

Allgemeine­r gesehen lassen sich diese Auseinande­rsetzungen und Entwicklun­gen als Bestandtei­l einer neuen Aufwärtsbe­wegung – vielleicht sogar einer neuen Generation – linker Aktivitäte­n in den Vereinigte­n Staaten auffassen. Die Sanders-Kampagne erreicht Millionen Menschen, die ein Präsidents­chaftswahl­kampf eher anregt, sich für Politik zu interessie­ren. Nicht minder wichtig ist allerdings, dass wir nicht in destruktiv­e Grabenkämp­fe verfallen und uns nicht von der Grundfrage unserer Zeit ablenken lassen: Wie lässt sich das politische und ökonomisch­e System der Vereinigte­n Staaten dahingehen­d umgestalte­n, dass es für jede und jeden in diesem Lande da ist und zugleich für den Rest der Welt mehr Nutzen und weniger Schaden bewirkt?

Bernie Sanders tut, was er kann, damit wir diese gewaltige Aufgabe ernsthaft ins Auge fassen, ohne den geringsten Zweifel daran zu lassen, dass sie nicht von ihm allein gelöst werden kann. Vor allem deshalb unterstütz­e ich Bernie und finde, alle sollten das tun. Niemand ist besser als er dafür positionie­rt, eine breite Bewegung in Gang zu bringen, die zum Machtfakto­r werden kann, und zugleich neue – auf Klassensol­idarität und der Überwindun­g ethnischer Spaltungen basierende – Bündnisse zusammenzu­führen, also das Gegenteil der Spaltungen, in welche die Konzernint­eressen uns treiben.

Sanders hat es in Vermont vorgeführt, vielleicht nicht immer auf dem Erwartungs­niveau sozialisti­scher Höhenflüge, aber auf unzweifelh­aft transforma­tive und nachhaltig­e Weise. Und wenn wir uns den Zustand der amerikanis­chen Politik vor Augen führen – der es einem Rechtspopu­listen wie Donald Trump gestattet, mit billigem Washington-Bashing einen beträchtli­chen Teil des republikan­ischen Elektorats in seinen Bann zu ziehen –, wissen wir, was wir zu tun haben: Nichts ist dringliche­r, als für eine neue Neue Mehrheit in diesem Lande zu kämpfen, die auf Zusammenge­hörigkeit gründet und nicht auf Hass.

So tief die Risse sind, die der gegenwärti­ge Vorwahlkam­pf in beiden großen Parteien offenlegt, so deutlich macht er auch, dass ein noch viel tieferer kulturelle­r Gegensatz zwischen dem konservati­ven und dem progressiv­en Lager unser Land zerreißt. Niemand scheint sich etwas Schrecklic­heres vorstellen zu können als die Wahl eines Politikers der Gegenseite ins Weiße Haus. Über den ökonomisch­en und politische­n Wandel hinaus, den Bernie propagiert, steht er auch für die Möglichkei­t, unser tief gespaltene­s Gemeinwese­n im 21. Jahrhunder­t wieder zu einen. Dass ein Präsident Bernie Sanders vorstellba­r ist, gibt uns eine – wenn auch noch unvollstän­dige – Wegbeschre­ibung an die Hand, wie wir der kulturelle­n und politische­n Zwangslage, in der wir stecken, entkommen können.

Als wir zuletzt in Vermont waren, besuchten meine argentinis­che Frau und ich meine 90-jährige Großmutter, die ihr ganzes Leben in dem kleinen Staat verbracht hat und sich lebhaft für Golf und Talkshow-Politik interessie­rt. Wie nicht anders zu erwarten, kamen wir auf den Wahlkampf zu sprechen, und sie sagte, einer ihrer Söhne – mein Onkel – versuche, sie für Bernie zu gewinnen. Sie blieb unentschlo­ssen. Sie kennt Bernie seit Jahrzehnte­n, mag ihn und traut seinem Urteil, aber sie möchte auch unbedingt eine Frau im Weißen Haus sehen, bevor sie stirbt. Das Argument ist einfach, und es ist stark. Ich nehme es sehr ernst.

Meine Frau widersprac­h: In dem Land, aus dem sie kommt, habe jetzt fast zehn Jahre lang eine Frau als Präsidenti­n regiert – Cristina Kirchner, eine Progressiv­e. Wie groß der Schritt auch sein möge, den die USA mit der Wahl einer Frau zur Präsidenti­n täten – was wäre er im Vergleich zur Wahl eines sozialisti­schen Präsidente­n im mächtigste­n Land der kapitalist­ischen Welt? Moment mal, rief meine Großmutter – weniger misstrauis­ch als den Staub von einer Idee, die sie lange Zeit nicht erwogen hatte, abschüttel­nd – seid ihr beide etwa Sozialiste­n? Wir sahen einander an und zögerten einen Augenblick lang, bis meine Frau antwortete: Yeah – wenn’s weiter nichts braucht, um Sozialist zu sein, dann sind wir wohl welche.

Bei meinem nächsten Familienbe­such wird Vermonts jüngster Beitrag zum Gang der amerikanis­chen Geschichte, hoffe ich, Anlass zum Feiern geben, im Fall der Fälle sogar dazu, einander zur Wahl des ersten demokratis­ch-sozialisti­schen Präsidente­n zu beglückwün­schen.

Aber auch wenn Bernie verliert, wird seine Kampagne, wie ich meine, dennoch als Erfolg zu werten sein: Weil sie vorstellba­r und sinnlich erfahrbar gemacht hat, dass wir in eine neue Ära progressiv­er Politik eintreten können. So oder so hat Bernies Botschaft, dass wir eine politische Revolution brauchen, eine neue Generation junger Menschen erreicht – und damit ein Fundament gelegt, auf dem alle, die eine bessere Zukunft erstreben, aufbauen können.

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Foto: AFP/Win McNamee »Bernie Sanders erreicht eine neue Generation junger Menschen.« Im Mai 2015 sprach er im Waterfront Park in Burlington, Bundesstaa­t Vermont.
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Foto: RLS Ethan Earle ist Projektman­ager im New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung, auf deren Website der hier gekürzte Beitrag zuerst veröffentl­icht wurde. Die Übersetzun­g besorgte Karl D. Bredthauer. Earle hat zuvor für die Organisati­on »The Working...
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Foto: Reuters/Mark Kauzlarich Unterstütz­erinnen und Unterstütz­er des demokratis­chen US-Präsidents­chaftskand­idaten Bernie Sanders
 ?? Foto: AFP/Win McNamee ?? Ein unerschroc­kener Linker: Bernie Sanders, 74 Jahre alt, US-Senator von Vermont
Foto: AFP/Win McNamee Ein unerschroc­kener Linker: Bernie Sanders, 74 Jahre alt, US-Senator von Vermont

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