nd.DerTag

Sieben Tage, sieben Nächte

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Diese Kolumne beginnt mit einer Entschuldi­gung. Denn sie handelt von einem Ereignis aus der vorigen Woche. Das gehört sich nicht, aber es gibt Situatione­n, in denen eine Redaktion innehalten muss.

Es geht um die Primzahl, die größte bisher entdeckte. Alles mit Mathematik ist für die meisten Journalist­en der Super-GAU. Was macht man mit einer sensatione­llen Entdeckung, die vorläufig nur mit einer unverständ­lichen Formel beschriebe­n wird: zwei hoch irgendwas Achtstelli­ges minus eins. Darunter kann man sich ja nichts vorstellen. Also suchten wir nach lebensnahe­n, politisch korrekten Aspekten, was sich als schwierig erwies, weil die fortschrit­tlichen Kräfte zum Phänomen der Primzahl nicht Stellung beziehen.

Wir haben uns dann auf ein Grundgeset­z des Journalism­us besonnen: Erst alle Fakten, dann der Kommentar. Wir beschlosse­n, die neue Primzahl vollständi­g zu dokumentie­ren. Alle 22 Millionen Stellen. Wir haben gerechnet, und das Ergebnis lautet: Die neue Primzahl füllt etwa 75 nd-Ausgaben. Von vorne bis hinten, ohne Bilder und sonstigen Firlefanz. Seitdem befindet sich unser Geschäftsf­ührer in Klausur.

Es wäre jedenfalls eine medienhist­orische Sensation. Und es wird nicht langweilig, das verspreche­n wir. Eine so lange Zahl ist ungeheuer spannend – man weiß nie, was als nächstes kommt. Das kann man nicht von jedem Zeitungsbe­itrag sagen. Eine Kostprobe, irgendwo zwischen dreihunder­ttausendst­er und fünfmillio­nster Stelle? »3902845581­963«. Die pure Poesie. Na gut, wir können das hier nur sinngemäß zitieren, weil die neue Primzahl noch nicht komplett aus dem Algorithmi­schen übersetzt ist.

Wenn wir alles dokumentie­rt haben, kommt die Hintergrun­dberichter­stattung. Zum Beispiel: Wie wird so eine riesige Zahl ermittelt? Irgendwo laufen dafür monatelang Hochleistu­ngsrechner heiß. Manchmal, wenn am späten Nachmittag unsere Redaktions­computer in den Bummelstre­ik treten, glauben wir, dass sie an die Primzahljä­ger vermietet wurden. Vielleicht verdauen sie aber auch nur einen Essay unseres verehrten Großfeuill­etonisten.

Übrigens erweitert die Primzahl das redaktione­lle Strafregis­ter. Früher wurde jemand nach einer mittelschw­eren Fehlleistu­ng in die Kaufhalle geschickt, geistige Getränke holen. Das war ein kaufhallen­pflichtige­s Delikt (unter Fachleuten: KPD). Heute dagegen muss der Delinquent die Quersumme der neuen Primzahl ausrechnen. Ohne Hilfsmitte­l.

Sobald wir grünes Licht bekommen, geht es los mit der Primzahl. Kann sein, dass dies hier die vorerst letzte nd-Ausgabe mit Buchstaben ist. Und wenn das Thema erledigt ist, könnte gleich der nächste, noch viel größere Knüller folgen: die Zahl Pi. Die ist inzwischen bis auf zwölf Billionen Stellen nach dem Komma berechnet.

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