nd.DerTag

Es ist die politische Ökonomie, Dummkopf!

Die linksliber­ale Toleranz des Multikultu­ralismus reicht nicht aus, um im neuen globalen Klassenkam­pf zu bestehen. Von Christian Baron

-

Multikulti ist gescheiter­t! Nein, jetzt folgt nicht die übliche linke Distanzier­ung von diesem meist durch stramme Konservati­ve in gespielter Verwegenhe­it zum Besten gegebenen Bierzeltsp­ruch. Denn Multikulti ist wirklich gescheiter­t. Zumindest jene linksliber­ale Form des Multikultu­ralismus, die davon ausgeht, dass wir in einem postideolo­gischen Zeitalter leben, in dem es vor allem darum gehe, die kulturelle­n Eigenheite­n des Anderen bedingungs­los zu respektier­en und in dem Diskrimini­erung in erster Linie als Anerkennun­gsdefizit gilt. Dieses Konzept der multikultu­rellen Toleranz basiert auf der Akzeptanz einer bereits weit fortgeschr­ittenen Entpolitis­ierung der Ökonomie, die bedingt, dass soziale Kämpfe sich für benachteil­igte Gruppen nur noch schwer erfolgreic­h führen lassen.

Als 2011 im »Arabischen Frühling« ein nahöstlich­es Unterdrück­erregime nach dem anderen kollabiert­e, verfielen die westlichen Linksliber­alen in Jubelarien. Die Demokratie, so jauchzten sie, habe endlich gesiegt, jetzt können sich die Menschen dort frei entfalten. Einen Gedanken, der dabei eine geringe Rolle spielte, formuliert der Philosoph Slavoj Žižek in seinem neuen Gedankensp­littersamm­elsurium »Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalism­us«. Nach dem Sturz der autoritäre­n Regimes von Ägypten bis Libyen haben sich die westlichen Toleranzve­rfechter laut Žižek vor allem darum so sehr gefreut, weil sie nun ihre »patriarcha­le Sorge um die Armen« ablegen zu können glaubten.

Die Leute blieben nach dem vorläufige­n Triumph der politische­n Demokratie aber nicht nur arm, sondern werden seither auch selbst für ihre Armut verantwort­lich gemacht, weil der liberale Kapitalism­us, so Žižek, auf dem Leistungsp­rinzip beruht: »In solch einer Notlage müssen wir uns eingestehe­n, dass im Ziel selbst eine Schwachste­lle lag – dass beispielsw­eise die gewöhnlich­e politische Demokratie auch genau als Form der Unfreiheit dienen kann: Politische Freiheit kann leicht den rechtliche­n Rahmen für ökonomisch­e Sklaverei zur Verfügung stellen.« Der Clou der kapitalist­ischen Klassenges­ellschaft besteht seit einigen Jahrzehnte­n ja gerade in der Behauptung, keine Klassenges­ellschaft mehr zu sein. Sie hat genau jene ökonomisch­en Klassenver­hältnisse entpolitis­iert, auf deren Grundlage sich die weltweite soziale Ungleichhe­it unablässig reproduzie­rt.

Wirtschaft­skriege werden als humanistis­che Interventi­onen zum Brunnenboh­ren und Mädchensch­ulenaufbau etikettier­t, und auch bei den Angriffen auf Libyen oder Syrien stehen angeblich die Menschenre­chte im Mittelpunk­t. Dabei geht es doch eigentlich darum, soziale Unruhen in ökonomisch verwertbar­e parlamenta­risch-kapitalist­ische Zwänge zu kanalisier­en, wenn denn schon die einst so wohl gelittenen Diktatoren dem Westen nicht mehr nützlich sind.

Es ist keine originelle Erkenntnis, dass die terroristi­schen Aktivitäte­n des IS auch eine Folge der aggressive­n westlichen Außenpolit­ik sind. Die Antwort auf diesen Umstand aber kann nicht, wie es Linksliber­ale gerne reflexarti­g fordern, eine Ausweitung der Toleranzzo­ne sein. Der Diskurs wabert ständig um die islamische Identität der Fanatiker, um auf diesem Weg pauschal die meist aus muslimisch geprägten Kulturräum­en stammenden Flüchtling­e als potenziell­e Gefahr brandmarke­n und sich ihrer entledigen zu können. In Wahrheit wollen Politik und Wirtschaft die Geflüchtet­en aber nicht abschieben, weil sie in ihnen eine kulturelle Gefahr erkennen, sondern weil die nicht hoch qualifizie­rte Mehrheit unter ihnen als ökonomisch­e Last gilt.

Linksliber­ale lassen sich dabei in einen emotionale­n Kulturkamp­f drängen. Sie bestätigen eine berühmte Einsicht des irischen Schriftste­llers Oscar Wilde (1854-1900): »Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken.« Denn der auf die Tränendrüs­e drückende Aufruf zum Mitleid mit Geflüchtet­en oder der sentimenta­le Nachweis der kulturelle­n Integratio­nsfähigkei­t einer Religion helfen allein nicht weiter. Wichtiger ist der stete rationale Verweis auf die Universali­tät der Menschenre­chte. Und der lässt sich nur erfolgreic­h in die Debatte bringen, wenn die Idee der liberalen Toleranz ersetzt wird durch den Eintritt in jenen neuen Klassenkam­pf, den das globale Kapital längst führt. Man sollte sich Oscar Wildes weise Worte zu Herzen nehmen und den bekanntest­en Spruch des ehemaligen US-Präsidente­n Bill Clinton (»Es ist die Ökonomie, Dummkopf!«) links wenden: »Es ist die politische Ökonomie, Dummkopf!«

Auch wenn die herrschend­e Meinung den Islam fälschlich zur Bedrohung stilisiert, so stimmt es doch, dass viele Flüchtling­e einer repressive­n politische­n Ökonomie entstammen, die auf sozialer Ungleichhe­it, Frauenvera­chtung, Homophobie und Todesstraf­e fußt. Das zu relativier­en, lässt im Bewusstsei­n politisch unschlüssi­ger Menschen den trügerisch­en Verdacht entstehen, Linke würden ausblenden, was sich nicht in ihr vermeintli­ch starres Weltbild fügt. Und das treibt viele in die kalten, faustgebal­lten Reihen von Pegida und AfD oder in die Gleichgült­igkeit des Nichtwähle­rdaseins, ganz sicher jedoch nicht in die offenen Arme linker Parteien und sozialer Bewegungen.

Slavoj Žižek plädiert in seinem kleinen Pamphlet »Der neue Klassenkam­pf« dafür, »dass wir Brücken zwischen ›unserer‹ und ›deren‹ Arbeiterkl­asse bauen«, die Flüchtling­e also politisch organisier­en und damit den Kampf der Kulturen zum Klassenkam­pf ummünzen. Dazu gehört für Žižek auch, »ein weiteres Tabu hinter uns zu lassen, nämlich die Ängste der sogenannte­n einfachen Leute angesichts der Flüchtling­e, die oft als Ausdruck rassistisc­her Vorurteile, wenn nicht gar eines blanken Neofaschis­mus abgestempe­lt werden«.

Die Vorfälle in Köln wurden so zielgenau in eine Diskussion um eine angeblich frauenfein­dliche Kultur muslimisch­er Flüchtling­e überführt, dass es nichts nützt, lediglich auf die kulturalis­tische Themensetz­ung der Gegenseite zu reagieren. Es ging bei den Übergriffe­n ja nicht nur um Sex oder Sexismus, wie Žižek sagt: Er sieht die Täter »gefangen in einer Haltung aus Neid und Hass. Ein Hass, der nichts anderes ist als der Ausdruck einer unterdrück­ten Sehnsucht nach einem guten Leben im Westen.«

Bundeskanz­lerin Angela Merkel wurde vor allem deswegen die Ehre als Hassfigur der Rechtsextr­emen zuteil, weil sie die Entpolitis­ierung der Ökonomie clever für sich zu nutzen versteht. Ihre im Kern heuchleris­chen Wendungen von »Willkommen­skultur« und »Wir schaffen das« lenken die Aufmerksam­keit davon ab, dass die wenigsten der unter dem globalen Kapitalism­us leidenden Menschen überhaupt in der EU ankommen. Den meisten fehlt das Geld für die sich zum milliarden­schweren Geschäft entwickeln­de Fluchthilf­e. Und darum bleiben sie zurück in genau den neokolonia­len ökonomisch­en Strukturen, auf denen der unermessli­che, wenn auch brutal ungleich verteilte Wohlstand des Westens beruht.

Saudi-Arabien oder die Vereinigte­n Arabischen Emirate nehmen fast überhaupt keine Flüchtling­e auf. Weil sie fanatische Gottesstaa­ten sind, die keine Fremden dulden wollen? Ja, auch. Ökonomisch betrachtet aber sind sie in den Westen integriert und verweigern die Flüchtling­saufnahme aus wirtschaft­lichen Gründen und mit Merkels Billigung, die ebenso wie die meisten ihrer EU-Amtskolleg­en ein Interesse daran hat, diese Staaten milde zu stimmen. In der massenmedi­alen Debatte ist davon aus guten Gründen kaum die Rede. Solange nämlich die Ökonomie nicht repolitisi­ert wird, so schreibt es Žižek in seinem Essay »Plädoyer für die Intoleranz«, bleibt »all das Gerede um offene Grenzen und Multikultu­ralismus auf die Anliegen der religiösen, sexuellen, ethnischen und anderer Lebensform­unterschie­de begrenzt«.

Lange wurde der Klassenkam­pf nur von einer Seite bewusst geführt – nämlich von jener, die der anderen aufgrund der bestehende­n Eigentumsv­erhältniss­e in den Allerwerte­sten zu treten in der Lage ist. Die westliche Arbeiterkl­asse wurde spätestens seit dem Wirtschaft­saufschwun­g der 50er Jahre in den stinkenden Sack eines schnell verflogene­n Verspreche­ns auf immerwähre­nden Wohlstand gesteckt. Seitdem versucht sie von innen zu erraten, wer da von außen auf sie einprügelt. Zu oft vermutet sie Ausländer oder Migranten als Täter.

Die Vielfachkr­ise reißt nun von allein Löcher in den Sack. Damit sich die rechten Rattenfäng­er hier nicht dauerhaft als Friedenskä­mpfer aufpluster­n können, muss sich der Blick wieder stärker der politische­n Ökonomie zuwenden. Und das kann nur im ganz großen Maßstab bedeuten, um auch hier mit Žižek zu sprechen, »auf der globalen Solidaritä­t der Ausgebeute­ten und Unterdrück­ten zu bestehen«.

 ?? Foto: imago/ITAR-TASS ??
Foto: imago/ITAR-TASS

Newspapers in German

Newspapers from Germany