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Ein Thermomete­r ersetzt keine ärztliche Diagnose

Der Erziehungs­wissenscha­ftler Hans Brügelmann lehnt Vergleichs­tests in der Schule nicht ab, hält sie für das Messen des Lernerfolg­s aber für ungeeignet.

- Hans Brügelmann: Vermessene Schulen, standardis­ierte Schüler, Beltz Verlag 2015, 143 Seiten, 19,95 Euro.

Herr Brügelmann, aus dem schlechten Abschneide­n deutscher Schüler bei der PISA-Studie vor eineinhalb Jahrzehnte­n zogen viele Bildungspo­litiker den Schluss, man müsse mit Hilfe von Vergleichs­tests die Qualität der Bildung regelmäßig überprüfen. Sie kritisiere­n das als »Testeritis«. Was haben Sie gegen derlei Bemühungen um Qualitätss­icherung? Durch Leistungst­ests die Qualität von Schule sichern? Eine kühne These! Solche Tests erfassen doch nur den sogenannte­n »Output« und davon wiederum nur einen kleinen Teil, schon vom Ansatz her eingeschrä­nkt auf wenige Fächer und von diesen wiederum nur Ausschnitt­e – und das auch noch in sehr oberflächl­icher Form. Wo bleiben die Wirkungen der Schule auf das soziale und das ästhetisch­e Lernen oder gar auf die Persönlich­keitsentwi­cklung der Kinder und Jugendlich­en? Und was ist mit der Qualität des pädagogisc­hen Umgangs: Respekt füreinande­r, Offenheit für die besonderen Bedürfniss­e und Interessen einzelner Kinder, Bemühen um die Überwindun­g ihrer Schwächen, demokratis­che Entscheidu­ngsverfahr­en? Ich finde, die Fixierung auf Punktwerte in Leistungst­ests führt zu einer Verarmung der Qualitätsd­iskussion. Warum schießen solche Tests dennoch seit Jahren wie Pilze aus dem Boden nach einem warmen Sommerrege­n? Es ist die Faszinatio­n durch scheinbar objektive Zahlen. Das ist mit den Quartalsza­hlen in der Wirtschaft nicht anders als mit den Liege-Tagen im Krankenhau­s. Man hofft, das ja immer fehleranfä­llige Urteil beteiligte­r Menschen ausschalte­n zu können. Denken Sie nur an die Diskussion über Schulnoten. Aber das Problem kriegt man mit Tests nicht weg. Der Preis für »Objektivit­ät« ist Standardis­ierung. Menschlich­e Verhaltens­weisen, also auch Leistungen in Tests, sind allerdings stets mehrdeutig. Standardis­ierung bedeutet daher den Verzicht darauf, unter die Oberfläche zu gucken. Denn eben das würde auch eine Interpreta­tion des Sichtbaren erforderli­ch machen. Man käme um ein persönlich­es Urteil gar nicht herum. Lehnen Sie Vergleichs­tests rundum ab? An sich können Tests ja durchaus hilfreich sein, als Warnlampe: Hier muss man genauer hinschauen, da noch was tun. Ähnlich wie in der Medizin eine erhöhte Temperatur Anlass zu einer differenzi­erteren Diagnose ist – aber eben nicht die Diagnose selbst. Schließlic­h käme niemand auf die Idee, das profession­elle Urteil des Arztes durch ein Thermomete­r zu ersetzen. Genau das aber droht in der Pädagogik. Und wenn dann noch auf den Test hin geübt wird, verliert der letztlich sogar noch seine Aussagekra­ft als Warnlampe. Der aktuelle Testboom stellt also nur ein »oberflächl­iches Messen« dar? Ja. Das Grundprobl­em ist doch: Es zählt nur die »richtige« Antwort, das heißt, die von den Testautore­n vorgegeben­e Lösung. Die persönlich­e Lesart eines Textes, die individuel­le Deutung einer Aufgabe, untypische Lösungsweg­e bringen keine Punkte. Damit werden Tests zum »heimlichen Lehrplan« – angesichts der genannten Schwächen und aktuellen gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen eine echte Gefahr. Worin bestehen Ihrer Ansicht nach die größten Schwächen dieser Tests? Eine Schwäche von Tests ist stets die Künstlichk­eit der Aufgabe. Zum Beispiel müssen mathematis­che oder naturwisse­nschaftlic­he Probleme als Text dargeboten werden. Insofern wird indirekt auch die Lesefähigk­eit mit geprüft. Bei der Beantwortu­ng von Fragen zu Texten wiederum spielen auch Wortschatz, Weltwissen und Kombinatio­nsfähigkei­t eine Rolle. Auch die Vorgabe von Auswahlant­worten oder die Begrenzung der Zeit engen den Lösungsrau­m künstlich ein. Man kann seine Antworten nicht mehr erläutern, das heißt, die Deutungsho­heit für die richtige Lesart der Aufgabe und für die Bewertung der Lösung geht verloren. Sie wird sozusagen an den Test beziehungs­weise dessen Macher überstellt. Zielen Sie mit Ihrer Kritik auch auf die sogenannte »Hattie-Studie«, ei- ne gigantisch­e Metaanalys­e, die von konservati­ven Bildungspo­litikern als Beleg dafür herangezog­en wird, dass es angeblich den unwiderleg­baren wissenscha­ftlichen Beweis dafür gebe, dass Lernerfolg­e unabhängig von der Klassengrö­ße zustande kämen? Ja, Metaanalys­en, in denen die Kennwerte vieler Studien zu einem einzigen Thema miteinande­r verrechnet werden, stellen ein ganz besonderes Problem dar: Bei der Verdichtun­g von Ergebnisse­n auf immer höheren Abstraktio­nsebenen verlieren die bewerteten Phänomene wie »Hausaufgab­en« oder »offener Unterricht« immer mehr an inhaltlich­er Bedeutung, weil in den zusammenge­fassten Teilstudie­n jeweils ganz unterschie­dliche Realisieru­ngen untersucht wurden. In Pauschalur­teilen, wie sie bei Hattie herauskomm­en, geht das verloren. Was vielleicht noch für Allgemeine­ntscheidun­gen hilfreich ist, zum Beispiel für die Politik, also Häufigkeit­en und Durchschni­tte, wird dem Einzelfall nicht gerecht. Kontextbed­ingte Abweichung­en und das individuel­l Bedeutsame werden forschungs­methodisch zum »Schmutzeff­ekt«, zum »Ausreißer« erklärt.

Die Fixierung auf Punktwerte in Leistungst­ests führt zu einer Verarmung der Qualitätsd­iskussion.

Wie sollten Schüler, Lehrer und Eltern mit Vergleichs­tests umgehen? Wir können das persönlich­e Urteil nicht ausschalte­n. Das ist auch nicht schlimm, solange es nicht mit zu viel Macht verbunden ist. Nötig ist eine soziale Kontrolle von Bewertunge­n statt technisch immer perfektere­r Methoden. Wie im Gerichtswe­sen mit unterschie­dlich definierte­n Rollen. Wahrnehmun­gen müssen ausgetausc­ht, Deutungen ausgehande­lt werden: zwischen Lehrerinne­n und Lehrern, Schülerinn­en und Schülern und ihren Eltern. Statt Standardis­ierung brauchen wir Mehrperspe­ktivität. Auch bei der Beurteilun­g von Schulen und auf der Systemeben­e.

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Foto: dpa/Julian Stratensch­ulte Vergleichs­tests und -studien stehen im Fokus von Bildungsst­atistikern.
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Foto: privat Hans Brügelmann war bis 2012 Professor für Erziehungs­wissenscha­ft an der Universitä­t Siegen. Inzwischen arbeitet er als Fachrefere­nt für Qualitätse­ntwicklung beim Grundschul­verband und hat dort an qualitativ­en Evaluation­sverfahren einer »pädagogisc­hen...

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