Auf der »Funkhaus« zum »buen vivir«
Die Postwachstumsliebe als gelebter Widerstand. Von Alexander Isele
So manche Liebe wird von einem Mythos getragen. Bei dem einen ist es die Erzählung über ein gemeinsames Erlebnis, des ersten Kusses oder des dritten gemeinsamen Urlaubs. Andere bauen ihre Beziehung wie ein Haus, bei dem erst das Fundament gegossen wird, bevor nach und nach, mit wachsendem Vertrauen und wachsender Liebe, die Wände hochgezogen und das Dach ausgebaut werden. Solch ein Mythos gibt vor, wohin es gehen soll. Gibt Kraft und Halt, wenn es mal nicht so gut läuft.
Beispielhaft für einen Liebesmythos soll hier eine Reise auf einem Schiff sein – auf den Weltmeeren gemeinsam dem Abenteuer Leben und Lieben begegnen. Denn es ist nicht zuletzt die Liebe, die sich Freiräume erobern muss. Marktstrategen haben sie unter Beschuss genommen, sich dem »weiten Feld« des »unordentlichen Gefühls« der Liebe angenommen, seine monetäre Verwertung verwirklicht. »I heart .../Ich liebe es«, schreit es von überall. Aufgekommen ist der Werbeslogan in der Kälte der Nullerjahre (Terror, Krieg, Klimawandel, Finanzkrise ...). Ein Präventivschlag, Wärme vorgaukelnd, wo doch nur ein Preisschild übriggeblieben war.
Dieser letzte Rückzugsort menschlicher Gefühle kann und darf nicht widerstandslos der Marktlogik überlassen werden. Deswegen ein Segelschiff, dessen Form, Größe und Route sich jeder selbst ausmalen darf – das aber unter schwarzer Flagge steht. Getauft sei es auf den Namen »Funkhaus«. Inspiriert von der Postwachstumsbewegung, erzählt die »Funkhaus« eine Geschichte, wie man es gemeinsam schaffen kann, sich der Marktideologie zu entziehen, ein anderes Leben und Lieben zu finden. Ziel ist das »buen vivir«, das gute Leben, ein Entwicklungskonzept aus Lateinamerika, das sich von westlichen Wohlstandsparadigmen verabschiedet und sich auf indigene Traditionen und Wertvorstellungen aus dem Andenraum beruft. In Bolivien und Ecuador hat das gute Leben, zu dem auch die Rechte der Natur gehören, bereits Verfassungsrang.
Bevor der erste Schritt über die Planke auf das Schiff gemacht wird, hier eine Bestandsaufnahme dessen, was es hinter sich zu lassen gilt: Es fällt schwer, sich den kulturellen Bindungen der Gesellschaft, in der man aufwächst und lebt, zu entziehen. Die Textur der Außenwelt schlägt sich im Selbstbild der Menschen nieder, in ihren Bedürfnissen und Wünschen. Die absurde und geradezu zwanghaft erzählte Mär vom Wachstum formt die Gesellschaft, Konsum ist zugleich Lebensstil und Ritual, die einer spirituellen Befriedigung gleichkommen. Arbeits- und Konsummöglichkeiten sind die verbliebenen Sinnstifter unseres Kulturmodells.
So wie die Außenwelt sich wandelt, transformiert sich auch die Innenwelt: Die Gedankenmodelle der Ökonomie beherrschen zunehmend die Modelle des Selbst. Die Erfolgsund Effizienzpropaganda findet sich wieder in der (Kinder-)Erziehung, im Verhältnis zu Familie, Freunden und Bekannten, aber auch: in der Liebe. Wachstumszwang beherrscht das Denken. Der 2014 verstorbene Frank Schirrmacher von der »FAZ« verglich die menschlichen Charaktereigenschaften mit denen des Marktes, mit den drei Parametern »Egoismus, Profitmaximierung und Angst«. Jens Jessen von der »Zeit« spricht gar von einem »neuen Menschen«, der von der Natur befreit sich selbst und seine Möglichkeiten zu optimieren sucht, mit nur einem Ziel: Macht.
Jedoch, gegen allen Widerstand hinweg ist es möglich, Alternativen zu finden und anders zu leben. Und diesem »unordentlichen Gefühl« kommt eine zentrale Rolle dabei zu. Die Geschichte des In-See-Stechens mit der »Funkhaus« ist die Geschichte des Suchens und Findens von einem ande- ren Leben, einer anderen Liebe – einem »buen vivir«.
Das Abenteuer der Reise auf der »Funkhaus« hat drei Erzählstränge. Der Erste findet auf einer ganz persönlichen Ebene statt: dem Erobern von Freiräumen! Der Verweigerung, sich dem zu unterwerfen, was die Gesellschaft vorgibt. Eine Möglichkeit zu finden, sich frei zu entfalten, fernab der kulturellen Normen, die vorgeben wollen, was zu tun ist und was nicht. Fernab von künstlichen Geschlechterrollen, von Konsumzwang, von der Idee, Selbstwert über Arbeit zu finden. Weg von der kulturellen Vorgabe, was schön ist und was nicht. Die »Funkhaus« erzählt davon, wie man das nicht alleine schafft, sondern, wie das gemeinsam erreicht wird.
Der nächste Strang beschreibt den gemeinsamen Widerstand, das praktizierte Nichteinverstandensein mit den Vorgaben und Zwängen unserer »Kultur«. Auch den Widerstand gegen sich selbst und gegen die Scheinattraktivität des Aufenthalts in der Komfortzone – der eigenen Bequemlichkeit. Die Gefahren, die überwunden werden müssen, die kleinen und großen Erfolge, die dabei erzielt werden. Die Rückschläge, das Nichtaufgeben, das Finden und Erreichen des Ziels.
Als Drittes zeigt die »Funkhaus« eine »Gegengeschichte« auf: So wie die Innenwelt sich änderte, als die Außenwelt sich der Wachstumsideologie unterwarf und der ›neue Mensch‹ entstand, ist es jetzt umgekehrt: Wenn wir uns ändern, wenn wir nicht mitspielen, anfangen, Alternativen zu leben und zu lieben, dann strahlt das in die Außenwelt aus. Sie inspiriert andere, es gleichzutun. Die »Funkhaus« sät Zweifel am Wachstumswahn, an der rücksichtslosen Selbstverwirklichung und Bedürfnisbefriedigung auf Kosten anderer.
Sie zeigt eine Alternative zum Rennen nach der Verwirklichung von gesellschaftlichen Vorgaben auf, deren Erfüllung als »Glück« verstanden wird. Denn, das ist die Krux am Wachstum, es wird immer etwas kommen, das man noch erreichen muss – Zufriedenheit im »Ist-Zustand« ist nicht möglich, da sie außerhalb der angewandten Logik steht. Genau an diesem Punkt strahlt die »Funkhaus« aus, inspiriert dazu, ebenfalls einen Ausweg aus dem Hamsterrad zu suchen, der die Zufriedenheit im Augenblick anstrebt, nicht das Rennen nach einer besseren Zukunft.
Die »Funkhaus« steht zugleich für und gegen etwas. Sie steht für das Insistieren auf Freiheit, Demokratie, Recht, Chancengleichheit, Bildung, Gesundheit und Liebe – und damit gegen ein Geschäftsmodell, das darin besteht, all das zugunsten eines radikal destruktiv gewordenen Wirtschaftsprinzips zu untergraben. Auf dieser Reise wird schrittweise »Wachstum« mit »Kultivierung«, »Effizienz« mit »Achtsamkeit« ersetzt. Für »Schnelligkeit« wird »Genauigkeit« stehen, für »alles immer« »Saison«. Für »Fremdversorgung« »Resilienz« und für »Konsum«: »Glück«.
Wie kann man das schaffen? Es gilt ein Verständnis dafür zu entwickeln, was es bedeutet, genug zu haben. Zu lernen, die Frage zu stellen: Was heißt es, gut zu leben? Die Postwachstumsbewegung stellt sich diese Frage gesellschaftlich. Ihre Antworten auf die individuelle Ebene zu stellen, sie auf die Liebe anzuwenden, eröffnet Möglichkeiten, ein anderes Leben und Lieben zu suchen und zu finden. Ein gutes Leben ist ein wünschenswertes Leben, erstrebenswertes Leben, nicht einfach ein Leben, wie viele es haben wollen. Es geht dabei nicht darum, glücklich zu sein, sondern Grund zu haben, glücklich zu sein.
Dafür gibt es Voraussetzungen. Das Vater-und-Sohn Gespann Robert und Edward Skidelsky, der eine Ökonom, der andere Philosoph, nennen in den »Blättern für deutsche und internationale Politik« sieben Basisgüter, die nicht nur »Mittel oder Befähigungen« zu einem guten Leben sind, sondern die an sich das »gute Leben« sind. Die »Funkhaus« ist der Versuch, sie zu finden: Gesundheit und Sicherheit. Die berechtigte Erwartung eines Menschen, dass sein Leben weiterhin mehr oder weniger seinen gewohnten Gang gehen wird, ohne Störung durch Krieg, Verbrechen oder größere gesellschaftliche oder wirtschaftliche Umbrüche.
Respekt. Anerkennung oder Einbeziehung des anderen Standpunktes. Voraussetzung dafür ist auch, dass die Ungleichheit gewisse Grenzen nicht überschreitet.
Persönlichkeit. Die Fähigkeit, einen Lebensplan zu entwerfen und umzusetzen, der die eigenen Vorlieben, das eigene Temperament und die eigene Vorstellung, was gut ist, widerspiegelt. Zur Persönlichkeit gehört ein pri-
vater Raum, ein Hinterzimmer, eine »Funkhaus«, auf der sich das Individuum entfalten kann. Persönlichkeit ist die Innenseite der Freiheit, das, was den Ansprüchen der öffentlichen Vernunft und Pflicht widersteht.
Harmonie mit der Natur. Ein Leben, vielleicht in einer Stadt, nicht entfremdet von ihrem ländlichen Umfeld.
Freundschaft. Wahre Freundschaft besteht, wenn jeder das Wohl des anderen als sein eigenes betrachtet und dadurch ein neues gemeinsames Wohl entstehen lässt.
Muße. Eine besondere Form der Tätigkeit, nach ihrem eigenen Recht. Muße in diesem Sinn ist das, was wir um seiner selbst Willen tun, nicht als Mittel zu etwas anderem; es ist die Abwesenheit von äußerem Zwang. Ein Leben ohne Muße, in dem alles um etwas anderen willen getan wird, ist nutzlos. Muße ist die Quelle von Nachdenklichkeit und Kultur, denn erst wenn wir uns vom Druck der Notwendigkeit befreit haben, so die Skidelskys, sehen wir die andere Welt wirklich, nehmen sie in ihrem anderen Charakter und Umriss wahr.
Die »Funkhaus« steht für ein »buen vivir« – ein Leben, das nicht als linearer Prozess verstanden ist. In dem Wohlstand kein Konzept von Reichtum als Anhäufung an materiellen Gütern ist. Sondern: Hier und jetzt gut zu leben, ausreichend zu haben. Nicht rennen müssen, um später mehr zu haben.
Ein Leben auf einem Segelschiff ist nicht einfach, das Meer in ruhigen Momenten ein Freund und Helfer, in stürmischen ein kaum zu bändigendes Monster. Oftmals wird die Haut von den Salzkristallen des Meerwassers aufplatzen, die Haare verfilzt, die Lippen spröde und die Hände blutig von Blasen sein. Das ist der Widerstand, den die Gesellschaft gegen diese Reise leisten wird.
Nicht mitzuspielen bei der rücksichtslosen Selbstverwirklichung isoliert, Wachstum anzuzweifeln lässt einen, bestenfalls, als Exoten erscheinen. Verzicht und Entbehrung an Gütern führen zu einem scheinbar schwierigeren Leben. Aber man kann eine andere Basis für Beziehungen schaffen, eine Liebe, die nicht nur darauf aufbaut, andere materiell zu versorgen, sondern sie gerade auch im Verzicht auf so manche Güter in den Mittelpunkt zu stellen.
Wie kann man die Reise auf der »Funkhaus« wagen? Dafür gibt es eine Schatzkarte, die den Weg weist. Sie erfordert Mut, Vertrauen, Kraft – aber wenn man es zulässt, sich der Führung des Herzens zu unterwerfen, dann wird man das gute Leben finden, kann gar nicht anders, als jeden Tag aufs Neue ein Stückchen mehr das »buen vivir« zu verwirklichen. Nicht morgen, sondern im Jetzt, nicht alleine, sondern zusammen mit denen, die einem lieb und wichtig sind.
Bei einer Reise auf den Weltmeeren besteht immer die Gefahr, Schiffbruch zu erleiden. Das Ende einer Liebe ist tragisch, schmerzlich, der Vergleich zum Untergehen nicht übertrieben. Jedoch, auch hier gilt die Schatzkarte: Vom Herzen leiten lassen! Denn Härte und Kälte mögen zwar für den Moment Halt geben, aber langfristig bedeuten sie Stillstand – persönlich und gesellschaftlich. Manchmal muss man Fehler, ob man schuldig ist oder nicht, annehmen und mit den Konsequenzen leben, weil es das Richtige zu tun ist. Manchmal ist genau das aber das Falsche, und das Festhalten an Entscheidungen um der Entscheidung willen, dem bisschen Halt willen, den sie geben mag, eine Sackgasse.
Denn es geht nicht um das Finden eines »Schatzes«; ein anderes Leben zu »leben«, sich dem Wachstumswahn im eigenen Leben zu entziehen, ist der Schatz: das »gute Leben«. Und Liebe ein Kompass, der dahin zu führen vermag.
Die Geschichte des In-SeeStechens mit der »Funkhaus« ist die Geschichte des Suchens und Findens von einem anderen Leben, einer anderen Liebe – einem »buen vivir«.