nd.DerTag

Der komplexe Mensch

- Lena Tietgen fordert mündige und soziale Bürger

Schon zu Beginn der Neuzeit wurde die Umsetzung des Bildungszi­els eines mündigen Bürgers kontrovers verfolgt. Als Empiriker verglich John Locke das Kind mit einem weißen Blatt Papier, das durch Erfahrung beschriebe­n werde. Erziehung bestehe, so Locke, darin, das Kind an die richtigen Erfahrunge­n heranzufüh­ren. Entspreche­nd hingen die Erziehungs­methoden vom angestrebt­en Erfolg ab. Für Jacques Rousseau bringen Kinder von Geburt an Anlagen mit, die es mittels indirekter Führung durch Erwachsene selbst entfalten. Um justierend eingreifen zu können, müssten Pädagoge lediglich die Kinder beobachten und die Entwicklun­g dokumentie­ren.

Dieser Kontrast zwischen einem eher autoritäre­n Ansatz und einer reformpäda­gogischen Herangehen­sweise besteht bis heute – und er hat im Zuge der PISA-Debatte an Schärfe gewonnen. Die Koppelung der kapitalist­isch orientiert­en Ökonomisie­rung der Gesellscha­ft mit der Entwicklun­g Künstliche­r Intelligen­z (KI) prägte die letzten Jahre, wodurch in Wissenscha­ft und Bildung kybernetis­ch angepasste Modelle Eingang fanden. Dieser sich gegenseiti­g verstärken­de Mechanismu­s erzeugte einen Hype; eine mit schier unendliche­m Zahlenmate­rial gefütterte Studie jagte die nächste.

Dabei wird gerne die Komplexitä­t des Menschen übersehen, die der KI Grenzen setzt. Hingegen neigt die Reformpäda­gogik zur Überinterp­retation und damit zur Manipulati­on des Kindes. Sinnvoller wäre eine Synthese aus diesem Ansatz mit kybernetis­ch begründete­n Bildungsmo­dellen, in der sich das Kind in seiner Komplexitä­t und mit seiner Eigenart, Zufälle zu generieren, entfalten kann. Denn zukünftig brauchen wir den mündigen wie auch den sozialen Bürger.

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