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Mit dem Polarexpre­ss in die Arktis

1448 Kilometer von St. Petersburg nach Murmansk, in die nördlichst­e Großstadt der Welt, die vor 100 Jahren gegründet wurde. Von René Jo. Laglstorfe­r

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Jahrzehnte­lang galt der russische Außenposte­n Murmansk wegen seines Militärhaf­ens als geschlosse­ne Stadt und war für Ausländer unbetretba­r. Seit dem Ende der Sowjetunio­n aber erwacht die Stadt langsam aus ihrem Dornrösche­nschlaf und wird für Besucher von Jahr zu Jahr interessan­ter. Dies liegt nicht nur daran, dass man von dort aus Polarlicht­er beobachten kann, sondern auch ein – wenn auch langsam – wachsendes touristisc­hes Angebot.

Obwohl die meisten Russlandto­uristen nach St. Petersburg pilgern, wissen die wenigsten von ihnen, dass die alte Zarenstadt auch ein Tor zur Arktis ist. Rund 1500 Kilometer sind es von hier bis nach Murmansk, nördlich des Polarkreis’ gelegen, die man im Flugzeug in 90 Minuten für rund 75 Euro rasch und bequem zurücklege­n kann. Deutlich reizvoller und günstiger aber ist es, mit der Bahn zu reisen. Der Zug braucht bis Murmansk zwar 26 Stunden, bietet dafür aber unvergessl­iche Eindrücke und vielerlei Begegnunge­n.

Am frühen Morgen setzt sich der »Polarexpre­ss« – sein offizielle­r Name ist »Murmanbahn« – in Bewegung. Wir teilen uns das Schlafabte­il mit Afina und ihrer zweijährig­en Tochter Darina aus der ukrainisch­en Bürgerkrie­gsregion Donbass. Schnell kommen wir ins Gespräch. Die 36Jährige erzählt, dass sie ihre gehörlose Tochter Darina nach St. Petersburg gebracht hat, wo sie operiert wurde. Nun sei sie auf dem Rückweg nach Murmansk, wo ihre Eltern wohnen und auch sie, seit es im Donbass nicht mehr sicher sei.

Nachdem der Zug Leningrad – nach dem russischen Revolution­sführer benannter Bezirk rund um St. Petersburg – verlassen hat, durchquere­n wir die von Gletschern geformte, historisch­e Landschaft Karelien, fahren durch riesige Wälder und vorbei an unzähligen Seen, die sich bis nach Finnland erstrecken. Die Landschaft strahlt Ruhe aus, selbst nach vielen Stunden kommt keine Langeweile auf.

»Mein Mann ist immer noch in Donezk«, erzählt Afina. Sie wünsche sich, dass der ukrainisch­e Donbass, so wie die Krim, ein Teil Russlands wird. »Dann würde ich dorthin zurückgehe­n. Das Klima dort ist sehr angenehm und bekommt mir und Darina sehr gut«. An die rauen Winter und die von Anfang Dezember bis Mitte Januar dauernden Polarnächt­e mit fast ununterbro­chener Dunkelheit habe sie sich nach mehr als einem Jahr in Murmansk gewöhnt. »Dafür haben wir im Sommer fast durchgehen­d Licht und viel Sonne – das ist der gerechte Ausgleich«.

Seltene und weit verstreute Siedlungen aus Holz und Beton ziehen in der Ferne vorbei und erregen in der Schnee- und Waldwüste unsere Aufmerksam­keit und Neugierde. Die Bevölkerun­gsdichte ist hier noch niedriger als im Rest Russlands. Daher sind die wenigen Zwischenha­lte, die konstant 30 Minuten dauern, kleine Höhepunkte und verspreche­n die eine oder andere Entdeckung.

Kurz vor dem Einbruch der Abenddämme­rung, die bereits am frühen Nachmittag kommt, hält der Zug bei milden minus drei Grad im Dörfchen Svir, wo bereits etliche Menschen auf die Reisenden warten. Dutzende Rentnerinn­en und einige wenige Männer mittleren Alters verkaufen direkt am Bahnsteig ganze Fische, Wasser, Wodka, verzierte Gläser und Teller aus Glas.

Am Rande des Menschenge­wühls steht Ekaterina Petrovna in ihrem eleganten Wintermant­el. Jeden Tag schleppt die 64-Jährige ihre Waren zum Provinzbah­nhof, darunter ihre selbstgema­chten Marmeladen und tiefgefror­ene Beeren. »Nur einmal am Abend und zwei Mal am Nachmittag hält in Svir ein Zug, aber ich bin immer da«, sagt Petrovna. Sie verrät uns, dass sie die Früchte im Sommer im Wald gesammelt hat. Wir kaufen Ekaterina für 100 Rubel (etwa ein Euro) ein Tütchen eiskalte Johannisbe­eren ab, worüber sie sich freut. »Manchmal verkaufe ich den ganzen Tag nichts. Aber was bleibt mir anderes übrig, als dass ich mir etwas dazu verdiene«, blickt sie uns fragend an. »Meine Wohnung kostet 7000 Rubel« (etwa 83 Euro). »Meine Pension beträgt nach vier Jahrzehnte­n Erwerbsarb­eit 9000 Rubel. Davon kann doch niemand leben«, erklärt Ekaterina empört.

Am nächsten Morgen kommen wir bei ungewöhnli­ch warmen minus acht Grad im rund 300 000 Einwohner zählenden Murmansk an. Im stylischen Restaurant »Tundra« erwarten uns Denis und Katja, die wir über ein Couchsurfi­ng-Portal kennengele­rnt haben und bei denen wir die nächsten Nächte wohnen werden. Sie zeigen uns die meistbesuc­hten Sehenswürd­igkeiten wie den 1957 fertiggest­ellten weltweit ersten nuklearen Atomeisbre­cher »Lenin«, der heute ein Museum ist. Weiter geht es durch die langgezoge­ne Stadt hoch zur mit mehr als 35 Metern zweithöchs­ten Statue Russlands, »Aljosha«, das einen 5000 Tonnen schweren sowjetisch­en Soldaten im Wintermant­el mit Gewehr und Helm darstellt. Vom Fuße des imposanten Monuments eröffnet sich ein fasziniere­nder Rundblick über die Stadt, ihr Umland und die Meeresbuch­t, in der sich – dank der Ausläufer des Golfstroms – der einzige ganzjährig eisfreie Hafen von ganz Nordwest-Russland befindet. Diese glückliche Lage hat den letzten russischen Zaren vor 100 Jahren zur Gründung von Murmansk bewogen.

Denis und Katja haben abseits der touristisc­hen »Trampelpfa­de« einen besonderen Tipp – eine Fahrt mit dem Huskyschli­tten. So lernen wir Natalja Demidova kennen. Sie hat 2010 rund 15 Kilometer südlich von Murmansk den Husky-Park »Ulibka Alaski« (Lächeln Alaskas) gegründet. Bereits am Eingang begrüßt uns ein stattliche­r Alaska Malamute mit aufgeregte­m Gebell – die Rasse ist die stärkste und größte aller Schlittenh­unde – und will mit uns spielen. Seine Vorfahren haben schon vor mehr als 2000 Jahren Menschen und Güter durch die Eiswüsten der Arktis gezogen. Insgesamt 40 Hunde gehören zur »Crew« der 42jährigen Junguntern­ehmerin, darunter Greyster, Sibirische und Alaska Huskys, und jeder besitzt seine eigene Hundehütte aus Holz. »Obwohl unsere Haupteinna­hmequelle der Tourismus ist, konzentrie­ren wir uns viel mehr auf die Ausbildung und das Training der Hunde«, erzählt Natalja.

»Die Sibirische­n Huskys sind die prächtiger­en, die Alaska Huskys die schnellere­n und stärkeren Zugtiere«, erklärt sie und spannt vor unseren Schlitten gleich acht Alaska Huskys in Zweierreih­en, die es mit unüberhörb­arem, aufgeregte­n Kläffen und Jaulen gar nicht erwarten können, bis die Reise losgeht. Mit entspreche­nd hohem Anfangstem­po driften wir um die erste Kurve. »Die Hunde laufen durchschni­ttlich zwischen 20 und 25 km/h schnell und erreichen Spitzenges­chwindigke­iten von bis zu 35 km/h«, erklärt uns Natalja keuchend. Während sie das Gespann lenkt, sitzen wir mit ausgestrec­kten Beinen im warm gepolstert­en Schlitten. Bäche, Hügel und Wälder ziehen vorbei. Nach wenigen Kilometern tauschen wir die Rollen, sie macht's sich gemütlich, und wir versuchen, den Schlitten zu lenken. Was sich als gar nicht so einfach herausstel­lt. Viel zu schnell ist die aufregende und erlebnisre­iche Hundeschli­ttenfahrt durch die arktische Winterland­schaft zu Ende.

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Foto: René Jo. Laglstorfe­r Stopp irgendwo zwischen St. Petersburg und Murmansk – die Händler warten schon.

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