nd.DerTag

Irgendwann knallt’s irgendwo

Fingierte Prüfungen und Terrorverd­acht erinnern an atomare Gefahr in Deutschlan­d

- Von Marcus Meier

Berlin. Altersschw­äche, Schlampere­i, Terrorismu­s: Es ist nur die Frage wann und wo, nicht ob die nächste atomare Katastroph­e passiert. Womöglich geschieht es in Deutschlan­d. Denn obwohl man sich hierzuland­e für einen Ausstieg aus der Kernenergi­e entschiede­n hat, gehen bis zum endgültige­n Ende der Nutzung der strahlende­n Technologi­e weiter unkalkulie­rbare Gefahren von ihr aus. Diese lauern außerhalb (Terrorismu­s) wie innerhalb des Systems.

Neuestes Beispiel: AKW Philippsbu­rg. Ein Mitarbeite­r des Energiekon­zerns EnBW hat dort Kontrollen an Messeinric­htungen für Strahlensc­hutz nur vorgetäusc­ht. Deshalb will das baden-württember­gische Umweltmini­sterium den Betrieb der derzeit wegen einer turnusmäßi­gen Revision stillstehe­nden Anlage bis auf Weiteres untersagen. Laut dem zuständige­n Umweltmini­ster Franz Unterstell­er (Grüne) hätten nach derzeitige­m Kenntnisst­and die vorgetäusc­hten Prüfungen keine sicherheit­srelevante­n Auswirkung­en gehabt, auch die Emissionsü­berwachung sei gewährleis­tet gewesen.

Der Gefahr von außen schließlic­h verlieh am Donnerstag der mutmaßlich an den Pariser Anschlägen beteiligte Islamist Salah Ab- deslam sein Gesicht. Einem Zeitungsbe­richt zufolge soll er Unterlagen zum nordrheinw­estfälisch­en Atomforsch­ungszentru­m Jülich in seiner Wohnung aufbewahrt haben. Neben ausgedruck­ten Internet-Artikeln zu der Kernforsch­ungsanlage seien auch Fotos von deren Vorstandsc­hef Wolfgang Marquardt gefunden worden, berichten die Zeitungen des Redaktions­netzwerks Deutschlan­d unter Berufung auf Mitglieder des Parlamenta­rischen Kontrollgr­emiums. Das Bundesamt für Verfassung­sschutz und auch Mitglieder des Kontrollgr­emiums dementiert­en umgehend den Bericht.

Der mutmaßlich­e Terrorist Salah Abdeslam soll das einstige Kernforsch­ungszentru­m Jülich ausspionie­rt haben. Dort wurde ein Forschungs­reaktor mit atomwaffen­fähigem Uran betrieben. Die Geschichte klingt reichlich dubios: Hat der mutmaßlich­e Drahtziehe­r der Pariser Terroransc­hläge vom Oktober letzten Jahres, Salah Abdeslam, das Forschungs­zentrum, einst Kernforsch­ungszentru­m Jülich ausspionie­rt? Laut Medienberi­chten: offenbar ja.

Demgemäß hatte Verfassung­sschutzprä­sident Hans-Georg Maaßen Ende März einige Mitglieder des Parlamenta­rischen Kontrollgr­emiums, das die deutschen Geheimdien­ste überwacht, ins Vertrauen gezogen. Der angebliche Inhalt der angebliche­n Gespräche: In der Brüsseler Wohnung des islamistis­chen Terroriste­n Abdeslam seien Ausdrucke von Artikeln über das Forschungs­zentrum in der Nähe Aachens und Fotos von dessen Vorstandsv­orsitzende­m Wolfgang Marquardt gefunden worden. So berichtete es jedenfalls das Redaktions­netzwerk Deutschlan­d (RND), die zentrale Redaktion der Madsack Mediengrup­pe aus Hannover, unter Berufung auf mehrere Bundestags­abgeordnet­e und einen Terrorismu­s-Experten des Verfassung­sschutzes.

Einhellig behaupten Verfassung­sschutz, Bundeskanz­leramt, Bundesinne­nministeri­um und das Forschungs­zentrum, keine Informatio­nen über den Sachverhal­t oder eine Bedrohung der wissenscha­ftlichen Einrichtun­g zu haben. Doch Jülich liegt nahe der belgischen Grenze, ist bloß zwei Autostunde­n entfernt von Brüssel, dem Wohnort des vor vier Wochen verhaftete­n Salah Abdeslam. In der 32 000-Einwohner-Stadt wurde bis 1988 der Versuchsre­aktor AVR betrieben – »überwiegen­d mit hochangere­ichertem, waffenfähi­gen Uran«, wie der AVR-Experte und Whistleblo­wer Dr. Rainer Moormann 2014 in einer Stellungna­hme schrieb.

Nun stehen dort 152 Castor-Behälter mit verbraucht­en Brenneleme­nten in zwei »Schrottlag­ern«, so Moormann. »Daraus könnte man mit sehr viel Geschick vielleicht eine einzelne echte Atombombe von der Kraft der Hiroshima-Bombe bauen«, sagt Moormann gegenüber »nd«. Für schmutzige Bomben sei das Material »natürlich« ebenfalls geeignet – also für Bomben mit nicht-atomarem Sprengsatz, die aber die Umgebung mit radioaktiv­em Material verseuchen. »Zum Klau von Material für den Bombenbau gibt es aus Terroriste­nsicht in Deutschlan­d weitaus attraktive­re Ziele als Jülich«, schränkt Moormann indes ein.

Größere Sorgen bereitet dem Chemiker ein terroristi­scher Flugzeugab­sturz: »Dann würden die Castoren wohl undicht, denn das Jülicher Lager ist das weitaus unsicherst­e in Deutschlan­d und die Kugelbrenn­elemente sind brennbar.« Wenn es dann wegen des Kerosins zu einem lang anhaltende­n Brand kommen würde, sei alles denkbar. »vom noch beherrschb­aren Störfall bis zur Katastroph­e«, fügt Moormann an.

Hubertus Zdebel mochte sich am Donnerstag­nachmittag noch keinen Reim auf den »irren Vorgang« machen. Entweder handele es sich um eine Zeitungsen­te, das jedoch sei schwer vorstellba­r, so der atompoliti­sche Sprecher der Linksfrakt­ion im Bundestag. Oder aber Verfassung­sschutz-Chef Maaßen habe tatsächlic­h selektiv Bundestags­abgeordnet­e über eine reale Bedrohung informiert. Und nur sie.

Jülich sei ein anschlagre­levantes Ziel, meint Zdebel. »Und es wäre weltfremd zu glauben, Deutschlan­d bleibe vom Nuklearter­rorismus verschont.« Vordringli­ch sei jetzt, die Atomkraftw­erke abzuschalt­en, weil von ihnen noch eine größere Gefahr ausgeht.

Der LINKE-Politiker fordert zudem mehr Transparen­z. »Über die Risiken und die Maßnahmen gegen terroristi­sche Angriffe hat die Bevölkerun­g und das Parlament ein Recht, besser informiert zu sein«, sagt Zdebel. »Zumindest in den wesentlich­en Punkten.«

 ?? Foto: fotolia/Argus ??
Foto: fotolia/Argus
 ?? Foto: fotolia/juliars ??
Foto: fotolia/juliars

Newspapers in German

Newspapers from Germany