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Geflüchtet­e unter Sanktionsd­ruck

Bundesregi­erung bringt Integratio­nsgesetz auf den Weg / Papier für ein solidarisc­hes Europa vorgelegt

- Von Christian Klemm

Ein Integratio­nsgesetz soll Rahmenbedi­ngungen für Geflüchtet­e abstecken, wer unter welchen Bedingunge­n in Deutschlan­d bleiben darf. Kritik an dem Vorhaben kam prompt auf. Sechs Stunden saßen die Spitzen der Großen Koalition zusammen bis am frühen Donnerstag­morgen weißer Rauch aus dem Berliner Kanzleramt aufstieg. Laut Thomas Oppermann hat man Historisch­es vollbracht: »50 Jahre nach dem Beginn der Einwanderu­ng bekommt Deutschlan­d jetzt ein Integratio­nsgesetz«, erklärte der SPD-Fraktionsv­orsitzende nach der nächtliche­n Sitzung. Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel fand große Worte: Er nannte die Einigung »einen wirklich historisch­en Schritt«. Wie bereits bei der Arbeitsmar­kreform vor fast 15 Jahren will sich die Bundesregi­erung bei der Integratio­n am Grundsatz des »Förderns und Forderns« orientiere­n.

Zum einen soll es 100 000 zusätzlich­e Arbeitsgel­egenheiten – sogenannte Ein-Euro-Jobs –, Erleichter­ungen bei der Ausbildung­sförderung und eine Verkürzung der Wartezeit auf einen Integratio­nskurs geben. Zum anderen will Schwarz-Rot sogenannte Mitwirkung­spflichten für Schutzsuch­ende festlegen. So soll das Ablehnen oder der Abbruch von Integratio­nsmaßnahme­n – ganz in der Tradition von Hartz IV – zu Kürzungen von Leistungen führen. Geplant ist außerdem, ein Daueraufen­thaltsrech­t nur anerkannte­n Flüchtling­en zu geben, die bestimmte Voraussetz­ungen erfüllen – unter anderem bei Sprache, Ausbildung und Arbeit.

Kritik ließ indes nicht lange auf sich warten. Das Vorhaben laufe auf ein »Desintegra­tionsgeset­z« hinaus, erklärte Pro-Asyl-Geschäftsf­ührer Günter Burkhardt. »Es gibt ein Angebotsde­fizit der Bundesregi­erung, nicht einen Integratio­nsunwillen der Flüchtling­e.« Ein Integratio­nsgesetz, das Sanktionen vorsehe, fördere das Vorurteil, dass Schutzsuch­ende sich nicht integriere­n wollten. Dieser Meinung schloss sich Katrin Göring-Eckardt an. »Wer heute immer noch nicht in der Lage ist, genügend Integratio­nskurse anzubieten, der sollte nicht über Sanktionen reden«, kritisiert­e die Fraktionsc­hefin der Grünen im Bundestag.

Thema des Spitzentre­ffens war auch der Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträ­gen. Die Koalition verständig­te sich darauf, die »Ressortabs­timmung« einzuleite­n und damit in das Gesetzgebu­ngsverfahr­en einzusteig­en.

Unterdesse­n rufen Intellektu­elle, Gewerkscha­fter und Politiker aus SPD, Linksparte­i und Grünen zu einem »radikalen« Kurswechse­l hin zu einem solidarisc­hen, demokratis­chen und sozialen Europa auf. »Aus dem Flücht- lingsdrama ist eine politische Zerreißpro­be geworden«, heißt es in einem Papier. Es warnt davor, dass Europa »zwischen nationalis­tischen Egoismen und menschenfe­indlicher Abschottun­gspolitik zerrieben« wird. Zu den Erstunterz­eichnern des Appells zählen unter anderem Annelie Buntenbach, Mitglied des geschäftsf­ührenden DGB-Bundesvors­tands und der Sozialwiss­enschaftle­r Elmar Altvater.

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