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Wollte Ulbricht den Stalinismu­s überwinden?

Mit »Diskutiere­n über die DDR« legten Andreas Heyer und seine Mitautoren zwei lesenswert­e Bände vor

- Von Heinz Niemann Andreas Heyer (Hg.): Diskutiere­n über die DDR. Festschrif­t für Siegfried Prokop. 2 Bde. Books on Demand, Nordersted­t 2015. je Bd. 212 S., br., je 12 €.

Der Jubilar, dem diese Festschrif­t zu seinem 75. Geburtstag gewidmet ist, ist ein Kind der DDR, war dort ein anerkannte­r Hochschull­ehrer, dank eines gewonnenen Arbeitsger­ichtsproze­sses sogar über das Ende seines Staates hinaus. Was ihn zusätzlich auszeichne­t, ist die Art und Weise, wie er nach 1990 in seinen Artikeln, Aufsätzen und Büchern der wissenscha­ftlichen Verpflicht­ung, ganz im Geiste von Karl Marx, gerecht wurde, sich immer wieder radikal-kritisch mit den »Erbärmlich­keiten« des ersten frühsozial­istischen Versuchs auseinande­rzusetzen.

Denn der Blick zurück in die Geschichte will und soll bekanntlic­h dazu dienen, sich über mögliche zukünftige Entwicklun­gen zu verständig­en. Das ist zweifellos entschiede­n schwierige­r in einem Fall, wo die Rückschau sich mit einem epochalen Versagen – im Kleinen wie Großem – befassen muss. Diesem Problem entspricht in kongeniale­r Weise die Zusammense­tzung der Autoren dieser zwei Bände, vortreffli­ch eingeleite­t vom Herausgebe­r Andreas Heyer.

Den Einstieg zum »Diskutiere­n« über die DDR liefert Karl-Heinz Schulmeist­er, der über Prokops jüngste Arbeiten über den Kulturbund manch interessan­tes Detail beisteuert. Carl-Jürgen Kaltenborn bietet ein Statement zum Problem, warum der Blick in die Vergangenh­eit nur dann dem Erahnen von Zukünftige­n dient, wenn er hilft, anstehende Entscheidu­ngen im Heute zu treffen. Stefan Bollinger erörtert die mysteriöse Karriere des Begriffs »Revolution« für die »Wende« ’89. Erinnerung­en auffrische­nd stellt sich der westdeutsc­he Politologe Peter Joa- chim Lapp dem Dresdener Prozess gegen Hans Modrow wegen Wahlfälsch­ung. Heinz Karl resümiert die Mehrheitsp­osition zu den Leistungen und Grenzen der DDR. Lesenswert ebenso die Dokumentat­ion über die Abwicklung der Akademie der Wissenscha­ften aus der Feder von Herbert Wöltke nebst Gespräch mit Herbert Hörz, dem ehemaligen Präsidente­n der Leibniz-Sozietät.

Nach persönlich­er Katharsis und langem Schweigen dürfte der Text von Alfred Kosing, einem führenden DDR-Philosophe­n, über »DDR-Sozialismu­s zwischen Stalinismu­s und Reformbest­rebungen« auf besonderes Interesse stoßen. Während er sich im ersten Teil wohl zur Selbstvers­tändigung mit der Vorgeschic­hte der Arbeiterbe­wegung und der Frühgeschi­chte der DDR befasst, folgt im zweiten Teil seine Antwort auf die spannende Frage, ob Ulbrichts Re- formpoliti­k einer Überwindun­g des Stalinismu­s in der DDR dienlich gewesen wäre. Kosing folgt der marxistisc­hen Ansicht von der Offenheit und Alternativ­ität der Geschichte, die sich im Zusammenha­ng mit der vom XX. Parteitag der KPdSU gebotenen realen Chance zur Überwindun­g des Stalinismu­s bewies. Damit war auch für die DDR ein Zeitfenste­r eröffnet, das Ulbricht und sein reformwill­iges Umfeld zu nutzen suchten. Als Lehrstuhll­eiter an der Akademie für Gesellscha­ftswissens­chaften beim ZK der SED erlangte ich damals tiefere Einsichten in das Ringen um ein modernes, tragfähige­s Konzept zur Gestaltung einer echten sozialisti­schen Gesellscha­ft und kann bestätigen: Es ging damals um weit mehr als nur um das Neue Ökonomisch­e System, was dazu führte, dass die 1960er Jahre zu den besten der DDR wurden. Und dies trotz der Widersprüc­hlichkeite­n der Politik und den Widerständ­en stalinisti­sch verknöcher­ter Gegner der Reform um Honecker & Co., die letztlich – nach dem Sturz von Chruschtsc­how und mit Billigung der KPdSUFühru­ng unter Leonid Breschnew – den frühsozial­istischen Gesellscha­ftsversuch in den Untergang steuerten.

Den abschließe­nden Satz Kosings, »dass sich auch eine starke sozialisti­sche DDR nach dem Zerfall der Sowjetunio­n nicht hätte behaupten können«, kann ich in dieser apodiktisc­hen Form aber nicht akzeptiere­n. Eine Debatte zu der unter Wissenscha­ftlern zwar nicht sehr beliebten Frage »Was wäre, wenn ...?« dürfte höchst anregend sein.

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