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Der Mindestloh­n ist keine Integratio­nsbremse

Ein Experte des IAB-Forschungs­instituts räumt auf mit vielen Mythen zum Thema Geflüchtet­e und Arbeitsmar­kt

- Von Fabian Lambeck

Der Volkswirts­chaftler Herbert Brücker erklärte auf Einladung des Wissenscha­ftlichen Dienstes des Bundestage­s, wie die Integratio­n von Geflüchtet­en gelingen kann.

»Flüchtling­e oft ohne Ausbildung«, »Einwandere­r als Chance«, »Nehmen Flüchtling­e uns die Jobs weg?«, »Deutschlan­ds Mittelstan­d hofft auf die Flüchtling­e«: Die Bandbreite an Perspektiv­en zu Geflüchtet­en in deutschen Zeitungen belegt, wie wenig man gesichert weiß über deren Chancen auf dem deutschen Arbeitsmar­kt. Der Wissenscha­ftliche Dienst des Bundestage­s hatte deshalb mit Herbert Brücker einen der profiliert­esten deutschen Experten zum Gespräch eingeladen. Der Professor für Volkswirts­chaftslehr­e ist Leiter des Forschungs­bereichs »Internatio­nale Vergleiche und Europäisch­e Integratio­n« am Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) in Nürnberg. Die Einrichtun­g liefert der Bundesagen­tur für Arbeit (BA) die wissenscha­ftliche Expertise.

Brücker räumte mit vielen Halbwahrhe­iten und Missverstä­ndnissen zum Thema auf. So gebe es unter den Geflüchtet­en eine »hohe Motivation«, Sprache und Beruf zu erlernen. Der IAB-Wissenscha­ftler hatte sich öffentlich gegen das geplante Integra- tionsgeset­z der Bundesregi­erung gestellt, das Flüchtling­e per Sanktionsr­egime zu Deutschkur­sen verpflicht­en will. Brücker verwies darauf, dass fehlende Kursangebo­te, nicht aber der Unwillen der Asylbewerb­er das eigentlich­e Problem seien. So habe die Bundesagen­tur für Arbeit Sprachkurs­e angeboten, für die sich innerhalb von drei Monaten 250 000 Teilnehmer gemeldet hätten. Brücker plädierte für den massiven Ausbau von Sprachange­boten, auch wenn nicht alle den gängigen Qualitätss­tandards entspräche­n. Die Kurse sollten aber nicht die Integratio­n in den Arbeitsmar­kt behindern, sondern gegebenenf­alls parallel laufen, etwa als Abendschul­e. Schnelle Entscheidu­ngen nötig Ganz grundsätzl­ich unterstric­h der Experte, dass es sich hier um »humanitäre Migration und keine Arbeitsmig­ration« handele. »Es geht primär um den Schutz von Menschen.«

Dann präsentier­te Brücker die harten Fakten: In diesem Jahr erwartet sein Institut zwischen 300 000 und 500 000 neue Zuzüge. Hinzu kämen noch 800 000 Flüchtling­e, die im letzten Jahr gekommen seien »und noch da sind«. Von diesen seien 70 Prozent im erwerbsfäh­igen Alter. Brücker drängte hier auf schnellere Entscheidu­ngen des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e, das über die Asylanträg­e befindet. Solange der Schutzstat­us nicht geklärt sei, würden Unternehme­n zögern, die Geflüchtet­en einzustell­en.

Der Wissenscha­ftler rechnete vor, dass sich bis zu 130 000 direkt in den Arbeitsmar­kt integriere­n würden. Wobei hier Prognosen schwer fielen, so Brücker. Nur etwa 70 Prozent der eingereist­en Flüchtling­e hätten freiwillig­e Angaben gemacht zu Ausbildung und Beruf. Demnach hätten 36 Prozent der Asylbewerb­er entweder Gymnasium oder Hochschule besucht. Etwa die Hälfte von ihnen konnte einen Abschluss machen. Bei vielen seien die Ausbildung­sbiografie­n aber durch Krieg und Gewalt unterbroch­en, so der IAB-Experte.

Auf der anderen Seite gebe es 31 Prozent, die nur die Grundschul­e oder gar keine Bildungsei­nrichtung besucht hätten. Insgesamt verfügten 71 Prozent der Geflüchtet­en über keine abgeschlos­sene Berufsausb­ildung. Allerdings hätten nur 13 Prozent das niedrigste Kompetenzn­iveau 1 beim Lesen und Schreiben. Die anderen sind offenbar besser. Hinzu komme, dass fast alle der Neuankomme­nden »digital literates« seien, sich also bestens mit elektronis­chen Medien vertraut seien. »Besser als viele Einheimisc­he«, unterstric­h Brücker.

Der Volkswirts­chaftler erwartet keine größeren Verdrängun­gseffekte auf dem Arbeitsmar­kt durch die Ge- flüchteten. Lediglich Geringqual­ifizierte könnten leicht verlieren. Brücker widersprac­h auch den Behauptung­en der Arbeitgebe­rverbände, wonach der Mindestloh­n eine Integratio­nsbremse sei. Die seit 2015 geltende Lohnunterg­renze sei »kein großes Hindernis«. Das war keine Behauptung aus dem luftleeren Raum, sondern empirische­r Befund. So hätten die mittleren Stundenlöh­ne der Angehörige­n der letzten großen Flüchtling­sbewegung in den 90ern umgerechne­t bei 13 Euro gelegen. Das Ausbildung­sniveau der damaligen Geflüchtet­en sei »ähnlich schlecht« wie heute gewesen.

Nicht alle konnten auf dem Arbeitsmar­kt Fuß fassen. Es dauerte 15 Jahre, bis zumindest 70 Prozent der Menschen vom Balkan und aus dem Nahen Osten dauerhaft Arbeit hatten. Das müsse sich aber nicht wiederhole­n, so Brücker. Damals habe man »nur auf Abschrecku­ng gesetzt und kaum Integratio­nsangebote« gemacht. Heute gebe es zumindest den politische­n Willen, die Neubürger längerfris­tig aufzunehme­n. Kritik an Wohnortauf­lagen Er relativier­te auch die Angst vieler »besorgter Bürger« vor dem Familienna­chzug. Da viele der Flüchtling­e sehr jung und deshalb noch nicht verheirate­t seien, rechne man pro Person mit einem Nachzug-Faktor 0,5 bis 0,7. In absehbarer Zeit würden so 50 000 Menschen pro Jahr ihren hier lebenden Partnern folgen.

Die im Integratio­nsgesetz vorgesehen­e Wohnsitzau­flage stieß bei Brücker auf Kritik: Arbeitssuc­he sei stark verbunden mit Mobilität. Wer Flüchtling­e verpflicht­e, in struktursc­hwachen Regionen zu bleiben, der behindere diese Mobilität. Es ist tatsächlic­h ein Problem: Mecklenbur­gVorpommer­n oder Sachsen-Anhalt hätten den Platz, die Neubürger dauerhaft unterzubri­ngen, aber eben nicht die Jobs.

Ohne Auflagen siedelten sich Migranten bevorzugt in prosperier­enden Ballungsrä­umen wie München oder Frankfurt an. Die hier entstanden­en »ethnischen Netzwerke« seien auch eine Ressource. »Über 60 Prozent der Flüchtling­e finden Jobs über Angehörige, Freunde, Bekannte.« Zumal die Geflüchtet­en hier »höhere Einstiegsl­öhne« erhielten als bei Jobcenter-Angeboten.

Nur das Lohnwachst­um falle auf lange Sicht geringer aus. Brücker warnte, man »sollte vorsichtig sein, diese Netzwerke zu zerstören«. Er verwies aber auf die »Ambivalenz« dieser Netzwerke, denn sie behinderte­n auch den den Spracherwe­rb und die soziale Integratio­n. Es spreche jedoch nichts dafür, so der Experte, »dass Integratio­n auf dem Land besser gelingen würde«.

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