Der Mindestlohn ist keine Integrationsbremse
Ein Experte des IAB-Forschungsinstituts räumt auf mit vielen Mythen zum Thema Geflüchtete und Arbeitsmarkt
Der Volkswirtschaftler Herbert Brücker erklärte auf Einladung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, wie die Integration von Geflüchteten gelingen kann.
»Flüchtlinge oft ohne Ausbildung«, »Einwanderer als Chance«, »Nehmen Flüchtlinge uns die Jobs weg?«, »Deutschlands Mittelstand hofft auf die Flüchtlinge«: Die Bandbreite an Perspektiven zu Geflüchteten in deutschen Zeitungen belegt, wie wenig man gesichert weiß über deren Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hatte deshalb mit Herbert Brücker einen der profiliertesten deutschen Experten zum Gespräch eingeladen. Der Professor für Volkswirtschaftslehre ist Leiter des Forschungsbereichs »Internationale Vergleiche und Europäische Integration« am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Die Einrichtung liefert der Bundesagentur für Arbeit (BA) die wissenschaftliche Expertise.
Brücker räumte mit vielen Halbwahrheiten und Missverständnissen zum Thema auf. So gebe es unter den Geflüchteten eine »hohe Motivation«, Sprache und Beruf zu erlernen. Der IAB-Wissenschaftler hatte sich öffentlich gegen das geplante Integra- tionsgesetz der Bundesregierung gestellt, das Flüchtlinge per Sanktionsregime zu Deutschkursen verpflichten will. Brücker verwies darauf, dass fehlende Kursangebote, nicht aber der Unwillen der Asylbewerber das eigentliche Problem seien. So habe die Bundesagentur für Arbeit Sprachkurse angeboten, für die sich innerhalb von drei Monaten 250 000 Teilnehmer gemeldet hätten. Brücker plädierte für den massiven Ausbau von Sprachangeboten, auch wenn nicht alle den gängigen Qualitätsstandards entsprächen. Die Kurse sollten aber nicht die Integration in den Arbeitsmarkt behindern, sondern gegebenenfalls parallel laufen, etwa als Abendschule. Schnelle Entscheidungen nötig Ganz grundsätzlich unterstrich der Experte, dass es sich hier um »humanitäre Migration und keine Arbeitsmigration« handele. »Es geht primär um den Schutz von Menschen.«
Dann präsentierte Brücker die harten Fakten: In diesem Jahr erwartet sein Institut zwischen 300 000 und 500 000 neue Zuzüge. Hinzu kämen noch 800 000 Flüchtlinge, die im letzten Jahr gekommen seien »und noch da sind«. Von diesen seien 70 Prozent im erwerbsfähigen Alter. Brücker drängte hier auf schnellere Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, das über die Asylanträge befindet. Solange der Schutzstatus nicht geklärt sei, würden Unternehmen zögern, die Geflüchteten einzustellen.
Der Wissenschaftler rechnete vor, dass sich bis zu 130 000 direkt in den Arbeitsmarkt integrieren würden. Wobei hier Prognosen schwer fielen, so Brücker. Nur etwa 70 Prozent der eingereisten Flüchtlinge hätten freiwillige Angaben gemacht zu Ausbildung und Beruf. Demnach hätten 36 Prozent der Asylbewerber entweder Gymnasium oder Hochschule besucht. Etwa die Hälfte von ihnen konnte einen Abschluss machen. Bei vielen seien die Ausbildungsbiografien aber durch Krieg und Gewalt unterbrochen, so der IAB-Experte.
Auf der anderen Seite gebe es 31 Prozent, die nur die Grundschule oder gar keine Bildungseinrichtung besucht hätten. Insgesamt verfügten 71 Prozent der Geflüchteten über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Allerdings hätten nur 13 Prozent das niedrigste Kompetenzniveau 1 beim Lesen und Schreiben. Die anderen sind offenbar besser. Hinzu komme, dass fast alle der Neuankommenden »digital literates« seien, sich also bestens mit elektronischen Medien vertraut seien. »Besser als viele Einheimische«, unterstrich Brücker.
Der Volkswirtschaftler erwartet keine größeren Verdrängungseffekte auf dem Arbeitsmarkt durch die Ge- flüchteten. Lediglich Geringqualifizierte könnten leicht verlieren. Brücker widersprach auch den Behauptungen der Arbeitgeberverbände, wonach der Mindestlohn eine Integrationsbremse sei. Die seit 2015 geltende Lohnuntergrenze sei »kein großes Hindernis«. Das war keine Behauptung aus dem luftleeren Raum, sondern empirischer Befund. So hätten die mittleren Stundenlöhne der Angehörigen der letzten großen Flüchtlingsbewegung in den 90ern umgerechnet bei 13 Euro gelegen. Das Ausbildungsniveau der damaligen Geflüchteten sei »ähnlich schlecht« wie heute gewesen.
Nicht alle konnten auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen. Es dauerte 15 Jahre, bis zumindest 70 Prozent der Menschen vom Balkan und aus dem Nahen Osten dauerhaft Arbeit hatten. Das müsse sich aber nicht wiederholen, so Brücker. Damals habe man »nur auf Abschreckung gesetzt und kaum Integrationsangebote« gemacht. Heute gebe es zumindest den politischen Willen, die Neubürger längerfristig aufzunehmen. Kritik an Wohnortauflagen Er relativierte auch die Angst vieler »besorgter Bürger« vor dem Familiennachzug. Da viele der Flüchtlinge sehr jung und deshalb noch nicht verheiratet seien, rechne man pro Person mit einem Nachzug-Faktor 0,5 bis 0,7. In absehbarer Zeit würden so 50 000 Menschen pro Jahr ihren hier lebenden Partnern folgen.
Die im Integrationsgesetz vorgesehene Wohnsitzauflage stieß bei Brücker auf Kritik: Arbeitssuche sei stark verbunden mit Mobilität. Wer Flüchtlinge verpflichte, in strukturschwachen Regionen zu bleiben, der behindere diese Mobilität. Es ist tatsächlich ein Problem: MecklenburgVorpommern oder Sachsen-Anhalt hätten den Platz, die Neubürger dauerhaft unterzubringen, aber eben nicht die Jobs.
Ohne Auflagen siedelten sich Migranten bevorzugt in prosperierenden Ballungsräumen wie München oder Frankfurt an. Die hier entstandenen »ethnischen Netzwerke« seien auch eine Ressource. »Über 60 Prozent der Flüchtlinge finden Jobs über Angehörige, Freunde, Bekannte.« Zumal die Geflüchteten hier »höhere Einstiegslöhne« erhielten als bei Jobcenter-Angeboten.
Nur das Lohnwachstum falle auf lange Sicht geringer aus. Brücker warnte, man »sollte vorsichtig sein, diese Netzwerke zu zerstören«. Er verwies aber auf die »Ambivalenz« dieser Netzwerke, denn sie behinderten auch den den Spracherwerb und die soziale Integration. Es spreche jedoch nichts dafür, so der Experte, »dass Integration auf dem Land besser gelingen würde«.