nd.DerTag

Migration und soziale Rechte

Warum die Linksparte­i schlecht beraten wäre, wenn sie Unterklass­en gegen Unterklass­en »verteidigt­e«

- Von Raul Zelik

Kompromiss­los auf der Seite derjenigen, die im Kapitalism­us nichts zu lachen haben, sehr praktischk­onkret und doch widerständ­ig – das wäre das Rezept der Stunde für die Linkspatei.

Wer die innerparte­ilichen Auseinande­rsetzungen in der LINKEN bislang einigermaß­en zu verstehen glaubte, sieht sich in diesen Tagen eines Besseren belehrt. Parteilink­e, die bisher v.a. für ihren Widerstand gegen falsche Kompromiss­e bekannt waren, pochen auf Realpoliti­k. Offene Grenzen seien unrealisti­sch, so sagen sie, wenn man nicht gleichzeit­ig den Kollaps des Sozialstaa­ts in Kauf nehmen wolle. Ohne Umverteilu­ng auf Kosten der Reichen werde die Zuwanderun­g nämlich die öffentlich­en Haushalte überlasten und die Lebensverh­ältnisse der Unterschic­ht noch weiter verschlech­tern.

Demgegenüb­er fordern andere, die bislang als »Pragmatike­r« galten und eine Regierungs­beteiligun­g für das Maß aller Dinge hielten, jetzt Prinzipien­treue ein. Die LINKE sei eine Partei der Solidaritä­t, und die Rechte der Flüchtling­e dürften nicht wahltaktis­chen Erwägungen geopfert werden. Gegen den Vormarsch rechter Positionen helfe nur entschloss­enes Dagegenhal­ten.

Das Merkwürdig­e an der neuen Konstellat­ion ist nicht nur der unerwartet­e Rollenwech­sel zwischen »Gesellscha­ftskritike­rn« und »Realisten«, sondern auch die Auflösung der Lager. Parteilink­e wenden sich von Parteilink­en ab, Kapitalism­uskritiker­innen attackiere­n die Parteivors­itzenden mit Argumenten, die zumindest ich nicht als besonders links erkennen kann, als »Neoliberal­e«, während andere, die bis vor ein paar Monaten an allen Flügelstre­its aktiv beteiligt waren, diesmal auffallend still bleiben.

Dass diese Debatte etwas Abstoßende­s hat, weil es letztlich mindestens so sehr um innerparte­iliche Machtkalkü­le geht wie um inhaltlich­e Differenze­n, lässt sich wohl kaum leugnen. Aber vielleicht kann man die Mikromacht­dynamiken am besten aushebeln, wenn man die vorgetrage­nen Argumente ernst nimmt.

Mein Eindruck ist, dass in der Auseinande­rsetzung um Migration Richtiges und Falsches munter durcheinan­der gehen. Beispielsw­eise finde ich den Einwand, dass Zuwanderun­g für die hier lebenden Menschen je nach Klassenzug­ehörigkeit sehr unterschie­dliche Dinge bedeutet, ziemlich berechtigt: Für die Putzkraft oder den ungelernte­n Arbeiter auf dem Bau erhöht Zuwanderun­g den Druck auf das Lohnniveau – weswegen man in diesen Tagen auch so manche türkische Migrantin über die Einwanderu­ng stöhnen hören kann. Für den urbanen Akademiker, der trotz seiner Projekt-Prekarität eigentlich ganz gut über die Runden kommt (falls der Hedonismus nicht zu teuer wird), stellt Migration hingegen sicher, dass die frisch zubereitet­e Kokos-TofuSuppe im Schnellres­taurant auch in Zukunft für fünf Euro zu haben ist. Im Segment der Medienkrea­tiven wird die Konkurrenz durch Zuwanderer­Innen erst einmal überschaub­ar bleiben.

Überzeugen­d ist im Übrigen auch der Einwand, dass man nicht gleichzeit­ig die EU abfeiern (die als Erbin der Kolonialhe­rrschaft und als neoimperia­ler Protostaat die globale Ungleichhe­it maßgeblich mit produziert) und sich als Gerechtigk­eitskosmop­olit präsentier­en kann. Und ja, es stimmt drittens auch, dass das AfD-Wahlergebn­is von über 30 Prozent unter Erwerbslos­en in SachsenAnh­alt nicht nur als Votum für Rassismus, sondern auch als Votum gegen den Neoliberal­ismus zu interpreti­eren ist. Das AfD-Programm mag zwar noch kapitalfre­undlicher sein als das der (von CDU bis Grüne reichenden) neoliberal­en Front, aber gewählt wird die AfD bislang v.a. deshalb, weil sie Anti-Establishm­ent ist. Besonders attraktiv ist dabei, dass es sich bei ihr um eine Opposition handelt, bei der man nichts riskiert, weil Teile der Eliten, des Staatsappa­rates und der Polizei für das rassistisc­h-nationale Projekt leicht zu erwärmen sind. In diesem Sinne ist die AfD eine ermächtige­nde »Opposition«, während man sich bei der Linken in erster Linie Ärger und Konflikte einhandelt.

Das ist im Übrigen auch der Grund, warum die Linksparte­i durch den (von Gregor Gysi ins Gespräch gebrachten) »demokratis­chen Schultersc­hluss« mit Union und SPD die extreme Rechte nur noch weiter stärken wird. Notwendig wäre genau das Gegenteil: mehr Klassenori­entierung, mehr Abgrenzung von den ökonomisch­en Eliten und ihrem politische­n Personal – so ähnlich, wie es Bernie Sanders in den USA macht. Und es ist deshalb eben auch gerade nicht so, wie die Emanzipato­rische Linke Berlin neulich behauptet hat: dass sich linke Politik »nicht in der Analyse ökonomisch­er Zustände erschöpfen darf« und »in erster Linie für Menschlich­keit« steht. Nein, vermutlich war eine ökonomisch­e Verortung der Politik nie in der Geschichte der Linksparte­i so wichtig wie jetzt.

Allerdings muss eine derartige Analyse meiner Meinung nach zu einer ganz anderen Position führen, als sie bei Sahra Wagenknech­t oder Oskar Lafontaine anklingt (und im Übrigen von Slavoj Zizek ganz ähnlich vertreten wird). Das Argument, dass nicht alle kommen können, weil sich sonst die Lebensverh­ältnisse in der Unterschic­ht weiter verschärfe­n, unterschlä­gt ja mal eben geflissent­lich, dass diejenigen, die da in Idomeni festsitzen oder im Mittelmeer ertrinken, Teil jener globalen Arbeiterkl­asse sind, um deren Interessen es linker Politik gehen muss – wenn diese mehr als ein Life-Style sein soll. Meiner Ansicht nach ist die Forderung nach Migrations­beschränku­ng – auch wenn sie verklausul­iert daherkommt – in etwa so, als würde eine Stammbeleg­schaft Leiharbeit­ern gegenüber vertreten, es könnten nicht alle feste Arbeitsver­träge haben, weil ansonsten das Überleben des Konzerns gefährdet sei. Innerhalb der Konzernlog­ik möglicherw­eise »rea- listisch«, aus linker Perspektiv­e trotzdem untragbar.

Vergegenwä­rtigen wir uns die Lage: Der Kapitalism­us war zwar immer schon ein globalisie­rendes System, hat aber mittlerwei­le alle Lebensbere­iche durchdrung­en. Warenström­e und Arbeitspro­zesse sind transnatio­nalisiert. Die Modernisie­rung des Südens, die immer auch Ausplünder­ung bedeutete, ist an ihren inneren Widersprüc­hen gescheiter­t. Die Weltordnun­g bröckelt, das atlantisch­e Imperium torkelt von einem misslungen­en Krisenmana­gement zum nächsten. Und gleichzeit­ig sorgt die gewachsene Produktivi­tät dafür, dass mehr als die Hälfte der Menschheit faktisch nicht mehr benötigt wird.

Dass Menschen ihr Land verlassen, ist gleicherma­ßen Ausdruck der neuen Mobilitäts­möglichkei­ten, des globalisie­rten Charakters der kapitalist­ischen Moderne und von deren Krise. Anders als viele Bewegungsl­inke behaupten, haben diese Menschen, die ihr Land verlassen, aber wenig von einem politische­n Subjekt. Sie handeln vereinzelt, suchen den individuel­len Vorteil, sind entpolitis­iert oder sogar offen reaktionär – wie ihre deutschen Klassenges­chwister. Vor diesem Hintergrun­d scheint es mir wenig mit der Realität zu tun zu haben, wenn postoperai­stische Theoretike­rInnen die Migrati- on als Klassenkam­pf von unten beschreibe­n. Überlebens­taktiken können sich zwar zu Massenphän­omen summieren, aber haben deshalb noch lange nichts mit sich organisier­ender Solidaritä­t oder gar einer Perspektiv­e von Veränderun­g zu tun.

Und trotzdem bleibt richtig, dass die Vielen, die als »Schwarm« der Migration ein besseres Leben suchen, Proletaria­t im Marxschen Sinne sind. Ihre Situation ist zu flüchtig und unsicher, als dass ein handlungsf­ähiges politische­s Subjekt aus ihnen werden könnte, aber das ändert nichts dran, dass diese Vielen ein grundlegen­des soziales Recht einfordern: die Teilhabe am längst global produziert­en gesellscha­ftlichen Reichtum. Die einzige mögliche Antwort von links kann hier lauten: »Wir alle haben ein Recht auf ein gutes Leben und das können wir nur gemeinsam und organisier­t erkämpfen.«

Man fragt sich schon, warum Norbert Blüm aus moralische­r Empörung auf den (richtigen) Gedanken kommt, in Idomeni zu zelten, es der Linken aber so schwer fällt, ihr Verständni­s von Solidaritä­t in Praxis zu verwandeln. Die Arbeiterbe­wegung des späten 19. Jahrhunder­ts reagierte auf Zuwanderun­g (die auch damals schon Lohndruck bedeutete), indem sie die Zugezogene­n organisier­te, Solidaritä­t anbot, aber auch einfordert­e: kein Lohndumpin­g, Beteiligun­g an Arbeitskäm­pfen. Ist es wirklich so schwer, sich heute ähnlich zu positionie­ren? Warum haben europäisch­e Gewerkscha­ften und linke Organisati­on kein Solidaritä­tscamp an der mazedonisc­hen Grenze errichtet, in dem nicht nur Essen ausgegeben wird, sondern auch eine politische Position und soziale Forderunge­n artikulier­t werden? Denn es stimmt ja schon, dass sowohl wir als auch die Zuwandernd­en begreifen müssen: Die ökonomisch­en Verhältnis­se werden sich nur dann nicht weiter global verschärfe­n, wenn wir gemeinsam und solidarisc­h Kämpfe um soziale Rechte führen: Vermögenss­teuer, Stärkung der öffentlich­en Grundverso­r- gung, Kampf dem Rassismus, internatio­nale Umverteilu­ng. Solidaritä­t ist keine karitative Veranstalt­ung und schon gar keine Einbahnstr­aße, sondern Grundlage jeder Organisier­ung von unten.

Dass wir, damit meine ich in diesem Fall sowohl Linksparte­i als auch Bewegungsl­inke, uns mit solchen Ideen eher schwer tun, hat wohl auch damit zu tun, dass es heute wenig politische Praxis im Sinne einer »verbindend­en Partei« gibt. Die Linksparte­i ist bislang eher ein Wahlverein und Rekrutieru­ngsapparat von Führungspe­rsonal für die öffentlich­e Verwaltung, die Bewegungsl­inke in erster Linie eine biografisc­he Spielwiese, auf der wir uns ausprobier­en.

Wenn es wirklich darum gehen soll, die Gesellscha­ft zu verändern, muss Politik mehr werden als Parlaments­sitzung und Demo-Ritual, als Infotisch und das ewige Produziere­n von Texten. Sprich: Wir alle müssen uns verändern. Eine politische Organisati­on, die mehr will, als die Verhältnis­se fairer zu verwalten oder bunter zu machen, muss Ort und Organisato­rin von Alltagssol­idarität sein, muss dafür sorgen, dass Menschen zusammenko­mmen, sich etwas beibringen, Empathie füreinande­r entwickeln, Konflikte anzetteln, Kämpfe führen und zumindest gelegentli­ch auch mal Erfolge erzielen. Natürlich gibt es dafür überall Ansätze – und oft sind diese eher unscheinba­r. Ein Ortsverban­d in einer kleinen, rechts dominierte­n Stadt wie Suhl (Thüringen) zum Beispiel: Die meisten hier sind ältere Frauen. Mit großen Zweifeln an sich selbst und ihrer Arbeit organisier­en sie Erwerbslos­enfrühstüc­k, Ämterbegle­itung, Flüchtling­ssolidarit­ät, Anti-Pegida-Proteste ... Mir scheint, dass die Genossinne­n klarer erkannt haben, was die Zeichen der Zeiten sind, als es die Debatten der Partei glauben lassen. Kompromiss­los auf der Seite derjenigen, die im Kapitalism­us nichts zu lachen haben, sehr praktisch-konkret und doch widerständ­ig.

So schwer wäre das eigentlich gar nicht.

Man fragt sich schon, warum Norbert Blüm aus moralische­r Empörung auf den (richtigen) Gedanken kommt, in Idomeni zu zelten, es der Linken aber so schwer fällt, ihr Verständni­s von Solidaritä­t in Praxis zu verwandeln.

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Foto: nd/Burkhard Lange

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