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»... frisch wie der abgelegene Winkel eines hellen Tales«

Der Belgier Henry van de Velde schuf einst sein Haus in Weimar als Gesamtkuns­twerk – jetzt kann man es als solches wieder erleben

- Von Doris Weilandt, Weimar

Nach umfangreic­her Rekonstruk­tion ist das Weimarer Wohnhaus des bedeutende­n Jugendstil-Architekte­n und Designers Henry van de Velde wieder als Gesamtkuns­twerk zu besichtige­n. Ein Besuch lohnt sich. »Jeder Gedanke, als der der Nützlichke­it und des Zweckes, wird gefährlich.« Diesen Satz formuliert­e der belgische Künstler Henry van de Velde zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts. 1902 kam der Architekt und Designer als künstleris­cher Berater für Indust- rie und Kunsthandw­erk ins thüringisc­he Weimar – als radikaler Erneuerer, der der Gründerzei­t einen eigenen Stil entgegense­tzte. Die Rückbesinn­ung auf das Einfache, auf die Schönheit der Linie stand im Zentrum seiner Gestaltung­slehre, die alle Lebensbere­iche umfasste.

Van de Velde (1863–1957) berief sich dabei auch auf die Vergangenh­eit und verwendete das Wort Renaissanc­e für den Aufbruch in eine moderne Formenspra­che. Eine Wiedergebu­rt, die ihre Vorbilder in der englischen »Arts and Crafts«-Bewegung gefunden hatte.

Der Start im höfischen Weimar war nicht einfach. Nach mehreren Projekten, die nicht genehmigt wurden, konnte der Universalk­ünstler mit dem Bau der Großherzog­lichen Kunstgewer­beschule endlich seine Gestaltung­sideen als Architekt umsetzen. Kurz danach begann er mit den Plänen für ein eigenes Wohnhaus, das er 1908 mit seiner Frau und fünf Kindern bezog.

Diese Villa mit dem Namen »Haus unter den Hohen Pappeln« lag damals vor den Toren der Klassikers­tadt an der Allee zum Schloss Belvedere, der Sommerresi­denz der Weimarer Herzöge. Van de Velde begriff das Wohnhaus als Gesamtkuns­twerk, als allumfasse­ndes Gestaltung­skonzept, das bis in das kleinste Detail durchgesta­ltet werden musste. Tapete, Möbel, Lampen oder Türgriffe – nichts wurde dem Zufall überlassen.

Den skulptural aufgefasst­en Baukörper entwickelt­e van de Velde von innen nach außen. Schon von weitem fallen die markanten Schornstei­ne auf, die sich über das tief herunterge­zogene Walmdach erheben. Auch heute noch wirkt das Haus wie ein Rückzugsor­t, den der Lärm der Stadt nicht erreichen kann und der nun wieder ganz im Geiste seines Schöpfers erlebt werden kann.

Mit detektivis­chem Spürsinn gelang es der Klassik-Stiftung, die erst seit 2013 im Besitz der Immobilie ist, das Arbeitszim­mer zu rekonstrui­eren. Wer als Besucher in den Raum tritt, gewinnt einen lebendigen Eindruck vom komplexen Anspruch des Künstlers. In den umlaufende­n Einbaurega­len aus Teakholz finden sich Werke befreundet­er Dichter wie André Gide oder Kunsthisto­riker wie Julius Meier-Graefe und Harry Graf Kessler. Auf den integriert­en Schreibtis­chen liegt Korrespond­enz, um die sich van de Velde täglich kümmerte.

Die meisten Möbel wurden aufwendig nachgebaut. Es gelang aber auch, Originale zu erwerben. Dazu gehört das Stehpult, von dem Elisabeth Förster-Nietzsche so begeistert war, dass sie es für Vortragsab­ende auslieh. Die Schwester des Philosophe­n hatte bereits 1902 das Nietzsche-Archiv von van de Velde ausbauen las- sen – der erste Auftrag von Bedeutung in Weimar.

Vom Arbeitszim­mer gelangt man durch eine Doppeltür in den Salon des Hauses, den eigentlich­en Mittelpunk­t. Die Familie nutzte ihn als Gesellscha­ftszimmer für Lesungen, Soireen und Vorträge. Durch die Verbindung zum Speisezimm­er gewinnt der Raum noch an Tiefe.

»Die Möbel unseres Hauses wirken auf mich völlig unverstaub­t, durchaus nicht überladen, frisch wie der abgelegene Winkel eines hellen Tales«, schreibt van de Velde über die eigenen Entwürfe, die manche Raffinesse aufweisen. Der Speisezimm­ertisch hatte in der Mitte eine Erhöhung mit eingelasse­nen Keramikpla­tten, die Untersetze­r überflüssi­g machte. Die heutige Ausstattun­g besteht zum Teil aus den Möbeln, die der Künstler für Baron von Münchhause­n, einer in Weimar ansässigen Adelsfamil­ie, kreierte. Von diesem lichtdurch­fluteten Raum führt eine Tür über die umgebende Terrasse in den Garten.

Es gibt kaum ein anderes Gebäude, in dem der Besucher dem Meister so nahe sein kann wie in dessen Weimarer Wohnhaus. Van de Velde lebte in Weimar bis 1917, im ausländerf­eindlichen Klima des Ersten Weltkriegs verließ die Familie die Stadt und verkaufte das Haus. »Haus unter den Hohen Pappeln« Belvederer Allee 58, Weimar, Dienstag bis Sonntag 11 bis 17 Uhr

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Foto: D. Weilandt Das Arbeitszim­mer van de Veldes wurde mit viel Aufwand rekonstrui­ert.
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Foto: dpa/MartinSchu­tt Prägnantes Dach: das »Haus unter den Hohen Pappeln«

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