Der Himmel auf dem Kopf
Stephan Kimmig inszenierte die Islamisierung des Abendlands: Houellebeqcs »Unterwerfung« am Deutschen Theater Berlin
Die Gegenwart ist ein karges Krankenhauszimmer, weiß und bühnengroß. Der Patient heißt Europa. Hier hat er die Gestalt eines der Welt überdrüssigen Mittvierzigers. Im metallenen Klinikbett krümmt sich François, ein alkohol- und sexsüchtiger, aber lebensmüder, einsamer Pariser Literaturprofessor mit einer eklig-eitrigen Hautkrankheit und einer quälend leeren Seele.
Hausregisseur Stephan Kimmig und Dramaturg David Heiligers haben am Deutschen Theater Berlin Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« zu einer weiteren Bühnenfassung verarbeitet. Nach dem Schauspielhaus Hamburg und dem Staatsschauspiel Dresden ist das DT bereits die dritte deutsche Bühne, die den gerade erst ein Jahr alten Roman für dramatisch genug hielt, um ihn fürs Theater zu adaptieren. In der Originalausgabe erschienen war das hysterisch diskutierte Buch, dessen Handlung von der Machtübernahme eines muslimischen Präsidenten im Frankreich des Jahres 2022 grundiert wird, just am Tag des Pariser Charlie-Hebdo-Anschlags. Auf dem Titel der Zeitschrift prangte eine Karikatur des Schriftstellers Michel Houellebecq.
Steven Scharf ist François, zum Pullover unter braunem Lederblouson trägt er eine gestreifte Schlafanzughose, im Gesicht eine große Brille und auf dem Kopf einen nachlässig frisierten Scheitel. Houellebecqs vornehm unterkühlter, seine Lebenswelt in distanziert interessierter Verachtung kommentierender Ich-Erzähler; hier wird er von Beginn an zum willenlosen Elendshäufchen umgeformt, das sich in gelegentlichen Eruptionen gegen den ihm drohenden Untergang stemmt. Dabei sehnt François den Tod im Innersten herbei, nur fehlen ihm zum Selbstmord der Antrieb und die Kraft. Scharf, der vor Jahren schon in Kimmigs Münchner »Plattform«-Inszenierung das Houellebecq-Pendent gab, spielt diese Rolle souverän, aber ohne Empathie. Der apokalyptische Funke, der durch jeden der eisig-ironischen Houellebecq-Sätze blitzt, will ins Publikum nicht überspringen.
Seltsam unbeteiligt wirkt auch das Spiel der schönen Lorna Ishema, die als einzige Frau in dem Fünferensemble diverse Figuren verkörpert. Dass die dunkelhäutige Schauspielerin dabei abwechselnd etwa als François’ jüdische Geliebte Myriam, als blutjunge muslimische Zweit- oder Drittehefrau des opportunistischen Universitätsdekans (Wolfgang Pregler), als ikonische Muttergottes und als nationalistische Brandrednerin Marine Le Pen auftritt, führt allerdings zu einem Kern der Houellebecqschen Gesellschaftsanalyse: Die sich im Bürgerkrieg entladende Polarisierung – auf der einen Seite die rechtsradikalen Identitären und ihr parlamentarischer Arm, der Front National, auf der anderen die jungen Salafisten, die ihre diplomatische Entsprechung in der Bruderschaft der Muslime finden – hat ihren Ursprung in einer gemeinsamen Misere, nämlich der zunehmend unerträglichen Ziel- und Haltlosigkeit des etablierten demokratisch-kapitalistischen Systems. Der Bürgerkrieg, den die Identitären anzetteln, und der heilige Krieg der Dschihadisten erscheinen hier als ein- und dasselbe.
Welcher Gegenwartsstoff, wenn nicht dieser, würde besser zum Spielzeitmotto des Deutschen Theaters passen: »Der leere Himmel«? Houellebecqs Zukunftsvision ist schon deshalb kein Wasser auf die Mühlen von Pegida, weil die Islamisierung des Abendlandes hier nicht als Bedrohung gezeichnet ist, sondern als Erlösung – eine äußerst fragwürdige Erlösung zwar, aber immerhin. Es geht um die Rückkehr der Religion in eine konkurrenz- und konsumgesteuerte Gesellschaft, deren Zusammenhalt in rasanter Geschwindigkeit marodiert. Mohammed Ben Abbes, Führer der französischen Muslimbrüder, verdankt seine Wahl zum Präsidenten am Ende einem Bündnis mit Sozialisten und Konservativen. Längst zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft, verfolgen beide Parteien letztlich nur noch ein einziges Ziel: Le Pen als Präsidentin zu verhindern.
Und mittendrin François, der verlorene Patient, der damit hadert, dass sein Körper nur mehr eine Quelle des Leidens sei, nicht mehr der Lust. Einmal schießt durch die papierne Decke seines Krankenzimmers eine Teleskopstange, an deren Ende eine Kamera befestigt ist. Der liegende Leidende weiß sie sich mit zittrigen Fin- gern als Mittel der Selbstbespiegelung zu greifen. Riesengroß erscheint dann sein Allerweltsgesicht in der Videoprojektion (Julian Krubasik). Drastisches Gegenstück dazu: die scharf konturierten SchwarzWeiß-Visagen junger Franzosen, die mit eisernen Minen dem kranken westlichen System und der Multikultigesellschaft den Krieg erklären. Offensichtlich handelt es sich bei diesen Aufnahmen um einen authentischen Werbespot der »Génération Identitaire«.
Endlich zum Präsidenten gewählt, verändert Ben Abbes die französi- sche Gesellschaft in rasendem Tempo. Er versagt den Großkonzernen jegliche Subventionierung und stärkt das Handwerk. Es gelingt ihm, die Kriminalitätsrate ebenso rasant zu senken wie die Arbeitslosenzahlen, wobei Letzteres vornehmlich der Tatsache geschuldet ist, dass nun beinahe alle Frauen zu Hause bleiben und ihr Leben der Familie widmen statt dem Job. Die allgemeine Schulpflicht endet zwar nach der Primarstufe, dafür wird der Hochschulsektor dank saftiger Finanzspritzen aus Saudi-Arabien zum verführerisch lukrativen Arbeitsplatz für (ausschließlich männliche) Dozenten und Professoren, die reihenweise zum Islam übertreten. So auch François’ fachlich erwiesenermaßen inkompetenter Unikollege Steve, den der hagere Hüne Marcel Kohler komödiantisch als Halm im Wind vorstellt: eben noch Anhänger der Identitären, erscheint er nun im muslimischen Gewand, um vom dreifachen Gehalt und der legalisierten Polygamie zu schwärmen.
Im Arztkittel tritt schließlich auch der überaus smarte Präsident Ben Abbes (Camille Jammal) an François’ Bett, um ihm die Kur zu erklären, die er Europa verordnet hat. Freilich dauert es nicht allzu lange, bis er den Kittel ablegt und darunter nicht etwa islamische Insignien, sondern der adrette Dress eines Staatsmannes zutage tritt, der es auf die Errichtung eines neuen Römischen Reiches abgesehen hat – die Türkei und Marokko sollen der EU als Erste beitreten, danach folgen Tunesien und Algerien, schließlich Ägypten. François, sich nach Heilung verzehrend, aber auch beim Versuch gescheitert, seinem Schriftstelleridol Joris-Karl Huysmans (1848-1907) zu folgen, der seine Erlösung aus dem Weltekel in der Konversion zum Katholizismus suchte, schlägt willig die Decke zur Seite, als Ben Abbes sich zu ihm ins Bett legt. Nein, versichert der Präsident, Katholiken hätten unter seiner Herr- schaft nichts zu befürchten, im Gegenteil, die werde man ohne weiteres schon noch bekehren. Die wahren Feinde der Moslems, das seien »der Säkularismus, der Laizismus und der atheistische Materialismus«.
François, dessen Bettgefährtin Myriam – unter all seinen semesterweise wechselnden Sexualpartnerin war sie diejenige, für die er so etwas wie echte Liebe empfand – zu diesem Zeitpunkt mit ihren Eltern schon längst nach Israel emigriert ist, lässt sich von Ben Abbes einlullen wie in eine Schäfchenwolke. Erst als der Präsident schon durch die Tür im Bühnenhintergrund entschwindet, fällt ihm Myriam ein. »Und die Juden?« ruft er Ben Abbes hinterher. Die Frage bleibt unbeantwortet. Es ist eine der aufwühlendsten Szenen in Kimmigs Inszenierung, die im Ganzen trotz ihres ins Tagesgeschehen drängenden Stoffes merkwürdig kalt lässt.
Durchschlagend indessen die Wirkung des in seiner Schlichtheit überwältigenden Bühnenbilds von Katja Haß, über dem zeitweilig ein grobkörniger Schleier liegt wie auf einem defekten Fernseher. Aus dem weißen Krankenzimmer führt eine weiße Treppe in die Höhe. Was sich über der kleinen Öffnung in einem der Deckenrechtecke verbirgt, in die sie führt, kann man nicht sehen, denn Gott ist ja tot. Einmal, auf seinem Irrweg zum Katholizismus, steigt François die ersten drei Stufen der Treppe hoch, allein: Sie sind aus Papier und zerreißen unter seiner Last. Am Ende aber, als er sich in sein neues, muslimisches Leben gefügt hat, senkt sich die Decke herab. Starr steht François da, während der Himmel ihm auf den Kopf fällt und das Papier über seiner Schädeldecke reißt. Was wartet nun aber dort oben? Eine in strenger Ordnung gereihte Kompanie grell leuchtender Neonröhren.
Houellebecqs Vision ist schon deshalb kein Wasser auf die Mühlen von Pegida, weil die Islamisierung des Abendlandes hier nicht als Bedrohung gezeichnet ist, sondern als Erlösung.
Nächste Vorstellung am 27. April