Ende des Enthusiasmus
30 Jahre nach dem GAU in Tschernobyl ist Atomkraft gefürchtet, aber nicht verbannt
Berlin. Die Stadt voller junger Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker, die »Straße der Enthusiasten« führte direkt ins vier Kilometer entfernte Atomkraftwerk Tschernobyl. Pripjat war der Inbegriff für den sowjetischen Glauben an den technischen Fortschritt – und an die Beherrschbarkeit der Atomenergie. 30 Jahre später sind nur Ruinen und überwucherte Wege geblieben, in Tschernobyl strahlen die Reste des explodierten Reaktorblocks 4 unter einer rissigen Betondecke noch jahrtausendelang.
Das Vertrauen in die Atomkraft wurde 1986 weltweit zum ersten Mal schwer erschüttert, ernsthafte Konsequenzen blieben allerdings aus: Der letzte Reaktorblock von Tschernobyl wurde erst im Jahr 2000 abgeschaltet, andere laufen weiter, neue werden in der Ukraine und in vielen anderen Ländern geplant und gebaut. Die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima vor fünf Jahren rüttelte dann zumindest die deutsche Politik auf und führte zum schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie.
Das Vertrauen der Bevölkerung hat diese Form der Energieerzeugung zumindest hierzulande ohnehin längst verloren: Heute halten 85 Prozent derjenigen Deutschen, die sich bewusst an den Tschernobyl-GAU erinnern können, einen ähnlich schweren Unfall auch in Mittel- und Westeuropa für möglich, zeigt eine Studie der Umweltorganisation Greenpeace. Vor allem störanfällige Reaktoren in den Nachbarländern Belgien, Frankreich, Tschechien und der Schweiz sorgen offenbar für Verunsicherung. Umweltverbände forderten aus Anlass des 30. Jahrestages der Tschernobyl-Katastrophe deshalb, zumindest alle Risikomeiler innerhalb der EU sofort abzuschalten.
»Tschernobyl hat bewiesen, dass die nukleare Technik nicht beherrschbar ist«, sagte der Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, Sascha Müller-Kraenner.
30 Jahre nach dem GAU von Tschernobyl sind viele Folgen bekannt, viele andere Fragen aber offen. Wie leben die Menschen in den verstrahlten Gebieten heute? Wird die neue Schutzhülle fertig, bevor der alte Sarkophag zusammenbricht? Und welche energiepolitischen Schlussfolgerungen zog die Ukraine aus der Katastrophe?
Die Schutzhülle des havarierten AKW in Tschernobyl muss dringend erneuert werden, doch die Arbeiten kommen nicht so recht voran.
108 Meter hoch, 162 Meter lang, eine Spannweite von 257 Metern: Das Gebäude wird das gigantischste, das die Menschheit jemals bewegt hat. 120 Meter neben dem havarierten Reaktorblock 4 von Tschernobyl entsteht eine Stahlhülle, die die Atomruine für 100 Jahre von der Außenwelt abschließen soll. Es ist einer der gefährlichsten Arbeitsplätze der Welt: Die Strahlung beträgt rund zwölf Mikrosievert pro Stunde, hundertmal mehr als etwa in Berlin. Direkt am Reaktor ist die Strahlenbelastung noch höher. Deshalb steht die Hülle auf Rädern, nach der Fertigstellung soll sie über die Ruine gerollt werden.
Eile tut Not, denn die Sarkophag genannte Schutzhülle um den 1986 havarierten Block ist altersschwach. Im Februar 2013 brachen Teile des Dachs des Maschinenhauses zusammen, Greenpeace warnte, dass es »keine Garantie gibt, dass nicht auch der Sarkophag einstürzt«. Eine neue radioaktive Wolke wäre die Folge.
»Beim Bau musste in Kauf genommen werden, dass die alten Stützkonstruktionen nicht zuverlässig waren«, sagt Alexander Borowoi vom russischen Kurtschatow-Institut. Es war das Zentralhirn der sowjetischen Atomindustrie, Borowoi einer der Schutzhüllenkonstrukteure: »Die Explosion und der Brand hatten das Material stark angegriffen. Ihre wirkliche Festigkeit konnte wegen der gewaltigen Strahlungsfelder nicht überprüft werden.« Informationen über den Zustand seien nur von Fotos aus dem Hubschrauber gewonnen worden.
90 000 Bauarbeiter hatten in nur 206 Tagen das, was vom 4. Reaktor des AKW »W. I. Lenina« übrig geblieben war, hinter Stahlwänden eingeschlossen. Zwar bescheinigen auch westliche Fachleute den Sarkophagbauern ingenieurtechnische Standards. Allerdings mussten die Teile vielfach per Roboter montiert werden – vor 30 Jahren noch eine enorme Herausforderung. Wesentliche Bauteile konnten weder verschraubt noch verschweißt werden, sie wurden nur aufeinandergestapelt. Die Konstrukteure gaben dem Bauwerk 25, maximal 30 Jahre Lebensdauer. Deshalb muss schleunigst eine neue Schutzhaut her.
»Die Finanzzusagen aus dem Westen waren an die Stilllegung der drei anderen Reaktoren gekoppelt«, erklärt Vitalii Petruk, Sonderbeauftragter der ukrainischen Regierung für Tschernobyl. Wenn die Ukraine das AKW stilllegt, finanzieren internatio- nale Geldgeber – die EU, China, die USA, aber auch Kasachstan, SaudiArabien oder Südkorea – die neue Hülle, so der Deal. Allerdings wurde der letzte der drei anderen Reaktoren erst im Jahr 2000 abgeschaltet. Wissenschaftler hatten 50 Kilometer östlich vom Kraftwerkskomplex eine unverstrahlte Gegend gefunden. Dort wurde 1986 in Windeseile eine neue Heimatstadt für die Atomkraftwerker gebaut, die sie »Slawutytsch« tauften.
Gebaut werden musste auch ein Eisenbahnanschluss, »zwei Armee-Einheiten wurden mit dem Bau betraut«, sagt Konstantin Loganovsky vom Ukrainischen Forschungszentrum für Strahlenmedizin. Der Kommandant einer Einheit habe seinen Soldaten befohlen, bei den Arbeiten Atemschutz und Schutzanzug zu tragen: »Der andere hat das unterlassen. Dessen Soldaten sind heute alle tot.« Eine der vielen Geschichten, die illustrieren, wie zuerst die Sowjetunion und dann die Ukraine um das Atomkraftwerk »W. I. Lenina« kämpften: 10 000 Menschen fuhren in den 80er und 90- er Jahren tagtäglich weiter ins verseuchte Werk zur Arbeit.
»In der Ukraine setzte sich in den 90er Jahren die Einsicht durch, dass das Land allein die Kosten für die neue Schutzhülle nicht stemmen kann«, sagt Sonderbeauftragter Petruk. Um mit der neuen Außenhaut beginnen zu können, musste also das Kraftwerk stillgelegt werden. Angesichts der Opfer, die dargebracht worden waren, um Tschernobyl am Laufen zu halten, sei das keine leichte Entscheidung gewesen.
»Erst danach konnte konkret mit den Arbeiten begonnen werden«, so Petruk. Mit dem Dekret 443-r beschloss das ukrainische Kabinett im Juli 2004, den Bauauftrag auszuschreiben. Im August 2007 wurde das Konsortium Novarka beauftragt. In diesem haben sich die französischen Konzerne Vinci und Bouygues mit den deutschen Firmen Nukem und Hochtief sowie einigen ukrainischen Unternehmen zusammengeschlossen. Baustart war schließlich 2010 – 24 Jahre nach dem GAU.
Aber trotz der Brisanz kamen die Arbeiten nicht vom Fleck. 2011 war zum ersten Mal das Geld alle, erst eine Konferenz machte neue Mittel der internationalen Geberländer frei. Als 2013 das Dach des Maschinenhauses brach, riefen einige an Novarka beteiligte Konzerne ihre Mitarbeiter zurück. Auch nachdem im Herbst 2014 die Unruhen auf dem Kiewer Maidan begannen, wurden die Mitarbeiter abzogen. 2015 war das Geld wieder verbraucht. Eine neue Geberkonferenz musste her. Über zwei Milliarden Euro soll das Projekt am Ende kosten.
»Wir rechnen jetzt mit der Fertigstellung im November 2017«, sagt Petruk. Bis dahin sollen 81 000 Kubikmeter Beton und 24 860 Tonnen Stahl verarbeitet sein. »Der Clou des neuen Sicherheitsbehälters ist aber seine Innenausstattung: Roboter und Kräne sollen den alten Sakrophag zerschneiden und das radioaktive Inventar bergen.« Ziel sei eine grüne Wiese statt einer strahlenden Atomruine. Aber die muss jetzt erst einmal hermetisch verschlossen werden.
Wesentliche Bauteile konnten weder verschraubt noch verschweißt werden, sie wurden nur aufeinander gestapelt.