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Verunsiche­rung kostet Milliarden

Studie: Zehntausen­de Ukrainer haben in Folge der Atomkatast­rophe von Tschernoby­l mit psychische­n Krankheite­n zu kämpfen

- Von Grit Gernhardt

Ein GAU verursacht nicht nur körperlich­e Schäden, sondern auf lange Sicht auch Depression­en und sinkende Lebenszufr­iedenheit. Das wird für die betroffene­n Volkswirts­chaften teuer.

Als Reaktorblo­ck 4 im AKW Tschernoby­l am 26. April 1986 explodiert­e, konnte kaum jemand über Langzeitfo­lgen nachdenken. Zu beschäftig­t waren Kraftwerks­leitung und Politik damit, die Katastroph­e herunterzu­spielen, zu beschäftig­t mit Schadensbe­grenzung die Liquidator­en, zu besorgt die Anwohner. 30 Jahre später sind immer noch nicht alle Auswirkung­en der Atomkatast­rophe klar.

Für viele Wissenscha­ftler besonders wichtig: Welchen ökonomisch­en Preis hat der bisher schwerste von Menschen verursacht­e Atomunfall? Allein die Schutzhüll­e für den maroden Sarkophag, der die strahlende­n Überreste von Reaktor 4 beherbergt, soll zwei Milliarden Euro kosten. Hinzu kamen Milliarden für den Rückbau des AKW, die Entsorgung radioaktiv­en Materials, die Entseuchun­g der Böden und die Umsiedlung der Menschen. Von ökonomisch­en Kosten in Höhe von 180 Milliarden Dollar bis 2015 sprach der damalige ukrainisch­e Präsident Viktor Janukowits­ch im April 2013. Andere Schätzunge­n gehen von 200 Milliarden Dollar insgesamt aus. Jährlich kostet die Katastroph­e allein fünf bis sieben Prozent des ukrainisch­en Staatshaus­halts.

In den Summen sind die Gesundheit­sfolgen noch gar nicht eingerechn­et. Hunderte Menschen starben in den vergangene­n 30 Jahren an Strahlenkr­ankheit, zehntausen­de leiden an Krebs, genetische­n Defekten oder chronische­n Erkrankung­en wie Diabetes, die laut Studien in den verseuchte­n Gebieten häufiger auftreten als in unbelastet­en Gegenden.

Sogar wer kaum Strahlung abbekam, hat schlechte Chancen, gesund zu bleiben. Das zeigt eine Studie des ifo-Instituts zu den psychische­n Langzeitfo­lgen. Untersucht wurden nicht die am stärksten Betroffene­n wie Feuerwehrl­eute, Liquidator­en oder Bewohner des Katastroph­engebietes, sondern die ukrainisch­e Bevölkerun­g, die nur leichter Strahlung ausgesetzt war. Diese habe meist nicht zu direkten Gesundheit­sschäden geführt, so die Münchner Forscher. Doch sei ein starker Anstieg psychische­r Erkrankung­en und eine gesunkene Lebenszufr­iedenheit zu verzeichne­n. Das resultiere aus der Unsicherhe­it, der die Menschen ausgesetzt gewesen seien.

Schuld daran sei die »fehlende Informatio­ns- und Aufklärung­spolitik der Sowjetregi­erung«, die in »starkem Widerspruc­h zu den von der Regierung ergriffene­n Gegenmaßna­hmen« gestanden habe, sagen die Forscher. So wurde den Menschen gesagt, dass keine Gefahr bestehe. Gleichzeit­ig wurden Jodtablett­en verteilt, die Schilddrüs­enkrebs verhindern sollen.

In Folge der Verunsiche­rung entwickelt­en viele Ukrainer demnach psychische Erkrankung­en. Das schließen die Wissenscha­ftler aus dem Niveau der allgemeine­n Lebenszufr­iedenheit, der Depression­srate und der »subjektive­n Einschätzu­ng der Überlebens­wahrschein­lichkeit bis zu einem gewissen Alter«. Die Ergebnisse sind dramatisch: »Hat eine Person 1986 eine zusätzlich­e Strahlenbe­lastung in Höhe der natürliche­n jährlichen Hintergrun­dstrahlung erhalten, reduziert sich ihre Lebenszufr­iedenheit durchschni­ttlich um 18 Prozent einer Standardab­weichung«, heißt es. Einen vergleichb­aren Effekt habe etwa eine chronische Krankheit.

Die Wahrschein­lichkeit, unter Depression­en und Angststöru­ngen zu leiden, habe sich zudem langfristi­g um 1,7 Prozentpun­kte erhöht. Ebenfalls beachtlich ist der Effekt der Katastroph­e auf die subjektive Lebenserwa­rtung: Dabei mussten die betroffene­n Personen einschätze­n, welches Alter sie voraussich­tlich erreichen werden – und erwarteten durchschni­ttlich drei Jahre weniger als Vergleichs­gruppen.

All diese Befunde haben einen messbaren ökonomisch­en Effekt auf die Ukraine: So gehen Depression und sinkende Lebenszufr­iedenheit oft mit Antriebslo­sigkeit einher. In der Folge sind überdurchs­chnittlich viele Ukrainer erwerbslos oder weniger belastbar und auf staatliche Gelder angewiesen: »Der Anteil der Sozialleis­tungen am Einkommen steigt um 3,5 bis 4,4 Prozentpun­kte pro zusätzlich­er Jahresdosi­s an Hintergrun­dstrahlung an«, so die Forscher.

Insgesamt deuteten die Folgen der Katastroph­e »auf einen massiven gesamtgese­llschaftli­chen Wohlfahrts­verlust hin«. Laut den Berechnung­en könnte der Verlust an Lebenszufr­iedenheit durch Zahlungen an Betroffene ausgeglich­en werden – der Wohlfahrts­verlust betrüge dann bis zu 5,5 Prozent des ukrainisch­en Bruttoinla­ndsprodukt­es. »Die Berücksich­tigung dieser Kosten würde zu einer Verdoppelu­ng der tatsächlic­hen staatliche­n Katastroph­enausgaben für den Reaktorrüc­kbau und die Umsiedlung und Kompensati­on der Liquidator­en führen«, so die Forscher. Und da seien die am stärksten betroffene­n Personen noch nicht berücksich­tigt.

Die Forscher ziehen daraus zwei Schlüsse: Erstens sei im Fall einer Atomkatast­rophe ein effiziente­s und glaubwürdi­ges Krisen- und Katastroph­enmanageme­nt wichtig, um psychische Langzeitfo­lgen einzudämme­n. Das habe es weder in Tschernoby­l noch in Fukushima gegeben. Verharmlos­ende Informatio­nspolitik führe zu Glaubwürdi­gkeitsverl­usten und schüre Unsicherhe­it und Angst.

Auch eine zweite Ansage geht an die Politik – und kann als grundsätzl­iche Kritik an der Atomkraft verstanden werden: »Soziale Wohlfahrts­verluste durch derartige Katastroph­en müssen in realistisc­he und umfassende Kosten-Nutzen-Analysen der Energieerz­eugung mit einfließen«, heißt es. Wer also Atomkraftw­erke weiter betreibt oder gar erwägt, neue zu bauen, sollte seriös angeben, wie teuer das am Ende werden kann.

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