Goethe und Genossen
Kunst
löst nichts, aber sie löst Verkrallungen in ein gar zu betriebswirtlich angelegtes Leben. Kunst erlöst nicht, aber einen Erlös bringt sie – du gewinnst Vertrauen, einen modernen Warnbegriff neu zu durchschmecken: Kostspieligkeit. Koste etwas aus: Setz aufs Spiel, koste es, was es wolle – Spiel will alles, es kostet Leben. Indem es dem Leben Rechnungen aufmacht, die nicht aufgehen dürfen. Wenn sie denn stimmen sollen. Der Schauspieler Horst Schulze hat bis in seine spätesten Tage hinein Goethes »Faust« gesprochen, solo, es war wie eine Dauerbekräftigung just dieser Kunstkräfte, die das Unvereinbare im Menschenkern offenbaren. Wie wir im Misslingen anderer zu glücklichen Teufeln werden. Wie unsere Klugheit immer neue Unterlassungssünden begründet. Aber auch, wie wir Wunder erhoffen, uns ins Wunder verlieben, ohne doch an Wunder zu glauben.
Über all das am Beispiel dieses Dresdners zu sinnieren – es ruft auch den Gedanken an ein biografisches Wunder auf: wie die Unruhe einer plötzlich erwachenden Ambition ein Leben verändert. Jenes Arbeiterkind, das Autoschlosser wird, entdeckt seine Liebe zur Oper. In Lortzings »Waffenschmied« betritt der Bariton Schulze – nach einer Gesangsausbildung – erstmalig die Bühne, Dresdens Oper. Arbeiterklasse: Der Arbeiter und die Klassik, bevorzugt in Dresden, in Weimar. Hamlet und Wallenstein, Posa und Franz Moor, Tasso und Don Carlos, Mackie Messer und Mephisto. Schulze wird Papageno an der Staatsoper Unter den Linden, er avanciert zur Legende als Henry Higgins in »My fair Lady«, am Berliner Metropoltheater.
Bei der DEFA und im DDRFernsehen erhebt ihn seine Art zu einem der seltsamsten Darsteller. Er ist populär, wo er doch so verhalten bleibt. Er strahlt, wo ihn doch seine geradezu graziöse Strenge nie verlässt. Das Gemeißelte, das hingebungsvoll Statische seiner Erscheinungsweise steigert seinen Baron Instetten in Wolfgang Luderers Film »Effi Briest« zum unvergesslichen Port- rät einer erstarrten, im Leben bereits begrabenen Kreatur aus Stand und Etikette. Seltsam? Ja, denn Horst Schulze war auch Karl Liebknecht, in Günter Reischs »Solange Leben in mir ist« und »Trotz alledem!«, er gab bei Regisseur Rudi Kurz die titelgebenden Kommunisten in »Hans Beimler, Kamerad« und »Ernst Schneller«. Mag eine Patinaschicht der propagandistischen Zielgebung diese Filme längst bedecken – die Besetzung plebejisch-politischer Ikonen mit diesem Schauspieler des Maßes, der geistigen Spannkraft, des stilvoll Unaufwändigen gab den Versuchen Glaubwürdigkeit und dem Spannungstoben einen fast stillen Ernst. Eine Schauspieler-Aura als alchimistische Küche eines ethischen Experiments: Das Bürgerliche verschmilzt mit dem Proletarischen – so setzte sich im Selbstbewusstsein einer aufstrebenden sozialen Kraft der schöne fordernde Auftrag fest, eine hochkulturelle Tradition zu wahren. Heute wird Horst Schulze 95.