Im »doppelten Kampf«
Vor 80 Jahren gründeten spanische Feministinnen die Gruppe Mujeres Libres – »Freie Frauen«
Soziale Revolution und Sexismus der Genossen: Dies waren die beiden Gefechtsfelder der im Spanischen Bürgerkrieg gegründeten Gruppe. Sie sollte später viele libertäre Frauengruppen inspirieren. »Lass uns eine anarchistische Frauengruppe gründen!« – Diese Idee haben Lucía Sánchez Saornil und Mercedes Comaposada Guillén, als sie 1933 – genervt vom Sexismus der männlichen Genossen – ein Gewerkschaftstreffen verlassen. Die beiden Frauen haben sich gerade kennengelernt; die Jurastudentin Mercedes Comaposada ist gebeten worden, Kurse für CNT-Mitglieder zu geben, doch die Männer weigern sich, eine Frau als Lehrerin zu akzeptieren.
Lucía Sánchez Saornil kommt aus einer Madrider Arbeiterfamilie; ihre Mutter und ihr Bruder sterben früh, so dass sie mit ihrem Vater und ihrer jüngeren Schwester aufwächst. Mit vierzehn Jahren beginnt sie, als Telefonistin zu arbeiten. In ihrer Freizeit schreibt sie Gedichte und wird 1918 Mitbegründerin des Ultraismus, einer literarischen Richtung, die verwandt ist mit dem Futurismus, Dadaismus und Surrealismus. Ihre ersten Gedichte veröffentlicht sie in der Literaturzeitschrift »Los Qujotes«, unter dem männlichen Pseudonym Luciano San-Saor. So kann sie erotische Gedichte über die Schönheit von Frauen schreiben, ohne dabei ihre Homosexualität zu offenbaren. In den 1920ern publiziert sie Poesie in weiteren literarischen Avantgardezeitschriften, später auch unter ihrem richtigen Namen. In Arbeitskonflikten politisiert sie sich und tritt der Gewerkschaft CNT bei; schnell gehört sie zu den Aktiven und nimmt eine herausragende Rolle im Streik gegen die Telefongesellschaft ein. Ihre politische Arbeit verändert auch ihr Schreiben; statt Gedichten verfasst sie zunächst Prosa, dann konzentriert sie sich auf politische Artikel in diversen anarchistischen Zeitschriften. 1933 wird sie Redaktionssekretärin der Zeitschrift CNT sowie Generalsekretärin der anarchistischen Hilfsorganisation »Solidaridad Internacional Antifascista«.
Immer wieder stört sie der Sexismus vieler anarchistischer Männer, die zwar von Gleichberechtigung sprechen, aber Zuhause lieber eine Partnerin haben, die den Haushalt allein erledigt, als eine, die selbst zu politischen Treffen gehen möchte. Lucía Sánchez Saornil stellt fest, dass viele männliche Anarchisten nichts für die Frauen tun möchten, aber wollen, dass Frauen etwas für die anarchistische Bewegung tun.
Mercedes und Lucía treffen sich in den nächsten Monaten regelmäßig auf einer Bank im Madrider Park Retiro und vertiefen ihre Idee einer eigenen Frauengruppe und einer dazugehörigen Zeitschrift. 1935 schließlich schreiben sie alle Gruppen an, die sie kennen, erzählen von ihrem Projekt und bitten um Rückmeldung. Neben kritischen Stim- men, die ihnen Abspaltung vorwerfen, melden sich viele begeisterte Frauen. Gemeinsam mit der Ärztin Ámparo Poch y Gascon gründen Lucía und Mercedes im April 1936 die Gruppe Mujeres Libres (Freie Frauen). Die erste Ausgabe der gleichnamigen Zeitschrift, die einen Monat später erscheint, ist sofort vergriffen. Mit dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs am 18. Juli 1936 und der gleichzeitigen sozialen Revolution bekommt die Gruppe viele neue Mitglieder; bis zu ihrer Auflösung Ende 1938 sind über 20 000 Frauen in ungefähr 170 Ortsgruppen organisiert.
Langfristig ist das Ziel der Mujeres Libres die Errichtung einer freien Gesellschaft, in der alle Frauen und Männer gleichberechtigt und selbstbestimmt leben können. Um dieser Gesellschaft näher zu kommen, setzen sich die Mujeres Libres einige kurzfristige Ziele: Sie wollen Frauen befähigen, sich ihre eigene Meinung zu bilden, politische Zusammenhänge zu verstehen und selbstbe- wusst Arbeiten zu ergreifen. Gleichzeitig wollen sie Frauen für die Ideen des Anarchismus begeistern. Sie halten eine eigenständige Frauenorganisation für temporär notwendig, um sich einem »doppelten Kampf« zu widmen: der eine findet auf dem Feld der sozialen Revolution für die Befreiung der Arbeiterklasse statt, der andere gegen frauenfeindliche Haltungen innerhalb der anarchistischen Bewegung sowie generell für die Befreiung der Frau. Neben der Herausgabe der Zeitschrift »Mujeres Libres« geben die Aktivistinnen Kurse für Analphabetinnen und bieten Frauen berufliche Qualifikationen an. Sie empören sich über die bürgerliche Scheinheiligkeit, die Prostituierte als unmoralisch verurteilt. Als Konsequenz organisieren sie »Häuser zur Befreiung von Prostitution«. In diesen Einrichtungen wird Frauen ein Weg zum Ausstieg aus dem Verkauf ihres Körpers gewiesen wird, sofern sie sich aus sozialer Not prostituieren. Die Mujeres Libres verurteilen Prostituierte nicht pauschal, überlassen die Entscheidung den Frauen. Prostituierte können in den Befreiungshäusern übernachten und jederzeit ein umfassende Angebot nutzen – von ärztlicher Versorgung über materielle Unterstützung bis hin zur Hilfe bei einer beruflichen Neuorientierung. Die Mujeres Libres stellten auch eigene Kolonnen von Frontkämpferinnen und organisierten Hilfsarbeiten für die Soldaten der republikanischen Armee. Um Frauen Zeit für Bildung und die Chance zur ökonomischen Unabhängigkeit zu verschaffen, kümmern sich die Mujeres Libres um die entsprechenden Rahmenbedingungen: Sie gründen Gewerkschaften für die Zweige Lebensmittelversorgung und Transportwesen, eröffnen die erste Fahrschule für Frauen und organisieren Kinderbetreuung und Volksspeiseräume.
Großen Zulauf haben die Aufklärungsabende der Mujeres Libres: dort wird über alles, was mit dem weiblichen Körper zusammenhängt, gesprochen: die weibliche Anatomie, Verhütung, Spaß an der Sexualität, Mutterschaft. Während manche Mitglieder der damals geltenden Überzeugung anhängen, Frauen müssten aufgrund ihrer Gebärfähigkeit Mutter werden, vertritt Lucía Sánchez Saornil die radikale Position, dass Frauen genau wie Männer frei entscheiden können, welches Leben sie führen möchten, inklusive der freien Entscheidung für oder gegen Kinder.
Als Lucía 1937 nach Valencia zieht und Redakteurin der Wochenzeitschrift »Umbral« wird, lernt sie América Barroso, genannt Mary, kennen. Dass die beiden ein Paar sind, verheimlicht Lucía nie vor ihren Mitstreiterinnen, thematisiert es öffentlich jedoch nicht. »Das Private ist politisch« ist in den 1930ern noch keine verbreitete Überzeugung. Anfang 1939, als sich der Sieg der Franquisten abzeichnet, fliehen die beiden wie viele andere über die Pyrenäen nach Südfrankreich, kehren jedoch zwei Jahre später nach Spanien zurück – Lucía illegal aus Angst vor Repressionen. Als sie in Madrid auf der Straße erkannt wird, flieht das Paar nach Valencia, wo sie bei Marys Familie leben können. Das Ende der Diktatur erlebt nur Mary; Lucía stirbt 1970. Von der Gründung der Exilgruppe Mujeres Libres 1964 erfährt sie noch, beteiligt sich jedoch nicht mehr direkt an deren politischen Aktionen.
Die Zeit des Bürgerkriegs behalten viele Mujeres Libres als die freieste Zeit ihres Lebens in Erinnerung; sie hatten drei Jahre in einer Revolution gelebt und ihr Leben selbst in die Hand genommen.