Ein Stuhl vor der Tür
Judith Hermann: Für das Vage in menschlichen Beziehungen hat sie eine feinsinnig-nuancierte Sprache
In diesem Herbst sammeln sich die Vögel früh, und sie werden vom Wind auseinandergerissen und treiben wieder zusammen und werden kleiner und ferner und ziehen dann weg. Die Brandherde der Kriege und Grenzen verschieben sich, die Flüchtlingsströme nehmen zu, Taifune zerstören ganze Landstriche sehr, sehr weit weg, und Seuchen brechen aus und ebben ab. Auf Doktor Guptas Schreibtisch liegt ein Buch von Bunin …« – Wie die Sprache fließt, was für eine Melodie sie hat, und welche Distanziertheit zugleich in ihr ist.
Mit ihrem neuen Erzählungsband »Lettipark« zieht Judith Hermann derzeit als Vorleserin durch die Lande. Sie deklamiert nicht, sie spricht eher verhalten, das Schwingende, Schwebende ihrer Texte hüllt die Zuhörer ein, hebt sie empor und schirmt sie ab. Der Lärm des Alltags bleibt draußen: all die Erregungen, mit denen wir letztlich bloß unterhalten werden sollen und die uns immer wieder ohnmächtig zurücklassen.
Die Stimmlage täuscht; Wohlfühlprosa ist das nicht, könnte es vielleicht sein, wenn wir die Protagonisten absichtsvoll weg von uns rücken würden, das eigene Ich abgrenzen gegen sie. Aber wenn wir uns auf sie einlassen, sehen wir das im Grunde mutige Bekenntnis einer Not, die im Vergleich mit eingangs angedeuteten Katastrophen zwar eine des Wohlstandslebens ist, aber eigentlich weniger soziale als psychologische Ursachen hat.
Doktor Gupta aus der Erzählung »Träume« ist Psychoanalytiker; Teresa geht schon seit Jahren zu ihm. »Sie wird nicht schwanger. Sie übersteht etliche Trennungen«, zum Beispiel bricht sie »die idiotische Bekanntschaft« mit ihrer Freundin Effi einfach ab. Ob das mit dem Traum zusammenhängt, den Effi ihr einmal erzählt hatte? Sie kommt »auf keinen klaren Gedanken« und wird »etwas Wesentlichem wohl nicht mehr auf den Grund kommen«. Doktor Gupta würde nach längerem Schweigen »vermutlich sagen, dass das hinnehmbar sei« …
Wer Judith Hermanns Prosa kennt, wird darauf gefasst sein, dass alles irgendwie im Vagen bleibt und dass das kaum Fassbare in einer feinsinnignuancierten Sprache beschrieben wird. Wenn man diese Erzählungen hintereinander liest, kann einem der zelebrierte Feinsinn auch manchmal auf die Nerven gehen. Immer wieder begegnet man Menschen, die es mit sich und ihrer Umgebung schwer haben. »Sie wird auf gar keinen Fall zu den anderen rübergehen«, heißt es in der Erzählung »Fetisch«. Lieber wird Ella allein am Feuer sitzenbleiben, ohne zu wissen, ob und wann Carl wiederkommt. Möglicherweise ist er ja schon abgereist. Eingeschlossen in ihr geheimnisvolles Selbst, haben die Gestalten Mühe zu kommunizieren. Selbst wenn etwas Schlimmes geschieht und sie eingreifen müssten, sind sie in einer Art Starre befangen. Was sie sich selber übelnehmen.
Greta, inzwischen schon alt, erzählt der jungen Maude, die auch dorthin will, von einem Erlebnis am Lago d’Iseo. An einen »Unfall« erinnert sie sich. Ein Kind war in ein kleines Boot gestiegen und wurde abgetrieben. Sie hatte es gesehen. »Vielleicht hätte ich das sagen sollen. Da- rauf aufmerksam machen sollen.« Der Vater wollte den schreienden Jungen retten. »Aber dieser See ist tückisch … Und dann, sagt Maude zögernd. Er kam nicht zurück … Ich habe nicht die ganze Zeit hingesehen. Was hab ich gemacht – ich habe gelesen, geschlafen, ich habe mich gesonnt.«
Es gibt da einen interessanten Widerspruch: Die Autorin will uns Menschen nahebringen, die selber keine Lust hätten, uns nahezukommen. Als ob sie von etwas erlöst werden müss- ten. Aber wie sollen wir das tun? Schöne Momente des Einvernehmens im Schweigen gibt es, aber meist hat die »Wortlosigkeit« – der Begriff kommt mehrmals im Buch vor – fatale Folgen. Beziehungen zerbrechen oder können sich gar nicht erst entwickeln. Und es ist womöglich gar ein Reiz dieser Prosa, herausfinden zu wollen, was eigentlich passiert ist.
Ada will Sophia besuchen, und die hat einen Stuhl vor ihre geschlossene Wohnungstür gestellt. Irgendwann wird Ada eingelassen, darf sogar bleiben, aber nur kurz, dann wird sie weggeschickt. »Was geschieht, wenn wir jemandem begegnen?«, fragt der Klappentext. Wir? Nein, Ada, Sophia, Ella, Samanta, Tess und wie sie alle heißen, sind ganz anderes als ich. Oder ist etwas von ihnen auch in mir? Weiß ich es nur noch nicht? Müsste ich es ergründen?
»Sie war verklemmt und damit beschäftigt, sich im Leben über Wasser zu halten«, wird in der Titelerzählung über Rose gesagt (solche Charakterisierungen sind selten). Mit der schönen Elena hatte Rose früher nichts gemeinsam »außer dem Blick, den Page Shakusky« auf sie geworfen hatte. Doch nun war Elena dick und unansehnlich geworden. Ein später Triumph für Rose? Weil sie einst neidisch gewesen war? Mit solchen Mutmaßungen aus einer banaleren Welt ist man in »Lettipark« neben der Spur. »In Page Shakuskys Buch für Elena war der Park schwarz und weiß und menschenleer gewesen. Ein Zwischenreich. Eine schwebende, sphärische Welt. Zwischen den Bäumen ungewisse Schatten und Zeichen auf den Wegen, die man nicht lesen konnte.«
»Zwischen den Bäumen ungewisse Schatten und Zeichen auf den Wegen, die man nicht lesen konnte.« »Ein halbleeres Glas Wein ist zwar zugleich ein halbvolles, aber eine halbe Lüge mitnichten eine halbe Wahrheit.« Jean Cocteau
Judith Hermann: Lettipark. Erzählungen. S. Fischer Verlag. 187 S., geb., 18,99 €.