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Freund hört Helfer ab

Die Thüringer Polizei hat massenhaft Telefonges­präche aufgezeich­net – und zwar längst nicht nur Notrufe

- Von Sebastian Haak, Erfurt

Seit 1999 sind offenbar Zehntausen­de von Gesprächen ohne Wissen und Zustimmung der Anrufer und Angerufene­n automatisc­h aufgezeich­net worden. Der Staatsanwa­lt aus Gera, der die Sache schließlic­h hat auffliegen lassen, war konsequent: Als im Februar 2016 ein Polizist anrief, um mit ihm über einen Fall zu sprechen, konfrontie­rte der Jurist den Polizisten mit der Frage, ob dieser Anruf – wie er gehört habe – aufgezeich­net werde. Ohne dass der Staatsanwa­lt seine Einwilligu­ng dazu gegeben hatte. Ja, sagte der Polizist. Der Staatsanwa­lt beendete das Gespräch und weigerte sich solange mit einem Polizisten über den Fall zu sprechen, bis er von der Polizei über ein Handy angerufen wurde, das die Telefonges­präche nicht mitschneid­en kann. Kurz darauf stellte der Staatsanwa­lt Strafantra­g. Er sehe die Vertraulic­hkeit des Wortes verletzt. Das ist eine Straftat. Eine, die aus seiner Sicht umso schwerer wiegt, weil sie von einem Amtsträger begangen worden sein soll.

Seit Mittwoch nun ist durch einen Bericht des MDR nicht nur dieser eine Fall des Mitschneid­ens von Telefonges­prächen öffentlich. Mittlerwei­le ist klar: Was dem Staatsanwa­lt passierte, ist seit Ende der 1990er Jahre Praxis gewesen. Die Gewerkscha­ft der Polizei sieht einen massiven Vertrauens­verlust, während die Staatsanwa­ltschaft Erfurt wegen des Strafantra­ges aus Gera und eines weiteren, später eingegange­nen ein Ermittlung­sverfahren führt, der Landesdate­nschützer Prüfungen anstellt, die Landtagsfr­aktionen Aufklärung fordern und das Innenminis­terium die Abhörpraxi­s erst mal gestoppt hat und die Sache nun intern aufarbeite­n will.

Dass neben den unstrittig legal aufgezeich­neten eingehende­n Notrufen auch Telefonges­präche automatisc­h aufgezeich­net worden sind, die von bestimmten Polizeitel­efonen aus geführt wurden, geht nach Angaben eines Sprechers des Thüringer Innenminis­teriums auf eine Dienstanwe­isung aus dem Jahr 1999 zurück.

Damals war das Notrufsyst­em in Thüringen noch anders aufgebaut: Die Notrufe gingen in einzelnen Flächendie­nststellen ein. Heute laufen sie im Normalfall in einer zentralen Einsatzzen­trale in Erfurt auf. Allerdings stehen in den Flächendie­nststellen noch immer die alten Notruftele­fone – die weiter benutzt werden und auch nach Gründung der Einsatzzen­trale weiter aufgezeich­net haben. Damals wie heute auch dann, wenn jemand über die direkte Einwahl diese Telefone ansteuerte, unabhängig von Notrufen – wie eben häufig Staats- und Rechtsanwä­lte, Sozialarbe­iter und auch Journalist­en. Auch abgehende Gespräche von diesen Apparaten sollen aufgezeich­net worden sein.

Hat die Polizei einfach vergessen, diese Funktion bei den Telefonen zu deaktivier­en? War das Mitschneid­en der Direkt-EinwahlGes­präche überhaupt jemals legal? Braucht man diese Funktion in den Flächendie­nststellen heute, als Rückfalleb­ene, wenn die Landeseins­atzzentral­e ausfällt? Was ist mit den aufgezeich­neten Daten passiert? Zu diesen und vielen weiteren Punkten gibt es gegenwärti­g mehr Fragen als Antworten.

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