Freund hört Helfer ab
Die Thüringer Polizei hat massenhaft Telefongespräche aufgezeichnet – und zwar längst nicht nur Notrufe
Seit 1999 sind offenbar Zehntausende von Gesprächen ohne Wissen und Zustimmung der Anrufer und Angerufenen automatisch aufgezeichnet worden. Der Staatsanwalt aus Gera, der die Sache schließlich hat auffliegen lassen, war konsequent: Als im Februar 2016 ein Polizist anrief, um mit ihm über einen Fall zu sprechen, konfrontierte der Jurist den Polizisten mit der Frage, ob dieser Anruf – wie er gehört habe – aufgezeichnet werde. Ohne dass der Staatsanwalt seine Einwilligung dazu gegeben hatte. Ja, sagte der Polizist. Der Staatsanwalt beendete das Gespräch und weigerte sich solange mit einem Polizisten über den Fall zu sprechen, bis er von der Polizei über ein Handy angerufen wurde, das die Telefongespräche nicht mitschneiden kann. Kurz darauf stellte der Staatsanwalt Strafantrag. Er sehe die Vertraulichkeit des Wortes verletzt. Das ist eine Straftat. Eine, die aus seiner Sicht umso schwerer wiegt, weil sie von einem Amtsträger begangen worden sein soll.
Seit Mittwoch nun ist durch einen Bericht des MDR nicht nur dieser eine Fall des Mitschneidens von Telefongesprächen öffentlich. Mittlerweile ist klar: Was dem Staatsanwalt passierte, ist seit Ende der 1990er Jahre Praxis gewesen. Die Gewerkschaft der Polizei sieht einen massiven Vertrauensverlust, während die Staatsanwaltschaft Erfurt wegen des Strafantrages aus Gera und eines weiteren, später eingegangenen ein Ermittlungsverfahren führt, der Landesdatenschützer Prüfungen anstellt, die Landtagsfraktionen Aufklärung fordern und das Innenministerium die Abhörpraxis erst mal gestoppt hat und die Sache nun intern aufarbeiten will.
Dass neben den unstrittig legal aufgezeichneten eingehenden Notrufen auch Telefongespräche automatisch aufgezeichnet worden sind, die von bestimmten Polizeitelefonen aus geführt wurden, geht nach Angaben eines Sprechers des Thüringer Innenministeriums auf eine Dienstanweisung aus dem Jahr 1999 zurück.
Damals war das Notrufsystem in Thüringen noch anders aufgebaut: Die Notrufe gingen in einzelnen Flächendienststellen ein. Heute laufen sie im Normalfall in einer zentralen Einsatzzentrale in Erfurt auf. Allerdings stehen in den Flächendienststellen noch immer die alten Notruftelefone – die weiter benutzt werden und auch nach Gründung der Einsatzzentrale weiter aufgezeichnet haben. Damals wie heute auch dann, wenn jemand über die direkte Einwahl diese Telefone ansteuerte, unabhängig von Notrufen – wie eben häufig Staats- und Rechtsanwälte, Sozialarbeiter und auch Journalisten. Auch abgehende Gespräche von diesen Apparaten sollen aufgezeichnet worden sein.
Hat die Polizei einfach vergessen, diese Funktion bei den Telefonen zu deaktivieren? War das Mitschneiden der Direkt-EinwahlGespräche überhaupt jemals legal? Braucht man diese Funktion in den Flächendienststellen heute, als Rückfallebene, wenn die Landeseinsatzzentrale ausfällt? Was ist mit den aufgezeichneten Daten passiert? Zu diesen und vielen weiteren Punkten gibt es gegenwärtig mehr Fragen als Antworten.