Armeniens Probleme ungelöst
Nach dem Ende der Geiselnahmen in Jerewan droht eine Aprikosen-Revolution
Armeniens Präsident hat die Revolte radikaler Gegner überstanden. Doch Machtwechsel und Reformen werden weiter gefordert. »Mission erfüllt, Volk wachgerüttelt, Kampf wird Dauerzustand«, konnte einer der »Putschisten« noch rufen. Dann schnappten die Handschellen zu, bei insgesamt 47 radikalen Oppositionellen. Das war das vorläufige Ende eines zweiwöchigen Dramas in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Am 17. Juli war eine Polizeiwache gestürmt worden, ein Beamter wurde getötet, zwei weitere wurden verletzt und zeitweilig hatten die Rebellen acht Geiseln in ihrer Gewalt. Sie wollten damit ihren Führer freipressen: Shirair Sefiljan, der seit Juni wegen Vorbereitung eines Staatsstreichs einsitzt. Das von ihm gegründete Nationale Widerstandskomitee ruft seit dem Winter zum Sturz von Präsident Sersh Sargsjan auf. Er sperre sich gegen längst überfällige politische und Wirtschaftsreformen und verrate nationale Interessen beim Konfliktmanagement in Karabach. Das ist Aserbaidschans Armenier-Region, die sich 1988 abspaltete.
Vor Sefiljans Verhaftung hatte die Gruppe wenig Zulauf. Während des Geiseldramas gingen Tausende auf die Straße. Auch nach den Verhaftungen kommt die Drei-MillionenRepublik nicht zur Ruhe. Zumal die Polizei mit brutaler Gewalt vorging und zahlreiche Unschuldige – Demonstranten und Journalisten – festnahm. Es gab Hunderte Verletzte.
Die meisten Armenier lehnten die Methoden der Radikalen ab, doch viele unterstützen ihre Forderungen: Machtwechsel und Reformen. Das politische System sei bankrott und nicht mehr in der Lage, angemessen auf reale Bedürfnisse der Massen zu reagieren. sagt der Jerewaner Politikwissenschaftler Ruben Megrabjan. Macht wie Opposition würden nur noch Gruppeninteressen bedienen.
In der Tat: Verwandte des Präsidenten und dessen Umgebung haben das Monopol beim Import von Zucker, Mehl und anderen Waren des täglichen Bedarfs. Im Sommer 2015 verdreifachten sich die Strompreise. Der Versorger ist ebenfalls Monopolist und gehört dem staatsnahen russischen Konzern RAO JEES.
Russische Unternehmen kontrollieren seit den Nullerjahren Filetstücke der armenischen Wirtschaft und haben dort, wie Politologe Megrabjan rügt, auch die russische Unternehmenskultur etabliert: Korruption und Cliquenwirtschaft. Auch das po- litische System sei dem russischen nachempfunden, Armeniens Bündnis mit Moskau der größte Hemmschuh für Reformen.
Viele sehen das ähnlich. Bei den jüngsten Protestdemos wurden erstmals antirussische Losungen laut. Das, glaubt Megrabjan, werde die Spaltung der Gesellschaft weiter vertiefen und eine längere Phase der Instabilität mit offenem Ausgang einleiten. Zumal spätestens beim Wahlkampf im Herbst – 2017 wird die Nationalversammlung neu gewählt – neue radikale Parteien das Rennen machen könnten. Schon jetzt sei der Ton in sozialen Medien rau wie nie.
Hintergrund sind neue Kämpfe in Karabach Ende April. Voller Wut, sagt Megrabjan, hätten die Steuerzahler registriert, dass die Armee noch immer miserabel bewaffnet sei. Auch wachse Moskaus Druck auf Präsident Sargsjan zum Einlenken. Der Kreml, glauben auch Beobachter in Moskau, wolle den Konflikt schnell beenden, um die Hände für andere Baustellen frei zu haben – und um das öl- und gasreiche, strategisch wichtige, derzeit aber neutrale Aserbaidschan enger an sich zu binden.
Das geht nur, wenn Sargsjan zu Kompromissen bereit ist. Wohl wissend, dass er darüber stürzen könnte, schloss er eine derartige Option am Dienstag bei einer Beratung mit Geistlichen, prominenten Intellektuellen und Zivilgesellschaft ausdrücklich aus und kündigte Reformen an.
Der einflussreichen und finanzstarken Diaspora in Westeuropa und den USA geht das nicht weit genug. Sie und der erste Präsident Armeniens – der liberale Lewon Ter Petrosjan, von dem Gerüchte behaupten, er sympathisiere mit den Radikalen – wollen einen politischen Paradigmenwechsel mit Distanz zu Moskau. Einen Namen hat das Projekt schon: Aprikosen-Revolution.