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Chemnitzer Modell mit Mops

Wie sächsische Wohnungsge­nossenscha­ften versuchen, für ihre älteren Mieter eine »Ersatzfami­lie« zu sein

- Von Hendrik Lasch, Chemnitz

Ältere Mieter sollen möglichst lange in ihren eigenen vier Wänden wohnen. Dieses Ziel haben mehrere sächsische Wohnungsge­nossenscha­ften – die auch wissen, dass dabei nicht nur clevere Technik hilft. Was vergrault ältere Menschen aus ihrer eigenen Wohnung? In manchen Fällen sind es Bus und Bahn. Genauer: eine wenige Zentimeter hohe Schwelle zwischen Bordstein und Fahrzeug, die sie mit dem Rollator nicht überwinden können. Die Folge: Sie fahren nicht mehr ins Stadtzentr­um, ihre Einkaufsmö­glichkeite­n verschlech­tern sich. Häufen sich solcherlei Einschränk­ungen, ziehen sie irgendwann resigniert in das betreute Wohnen.

Bei der Chemnitzer Siedlungsg­emeinschaf­t (CSG) soll es dazu nicht kommen. Die Genossensc­haft, unter deren über 9500 Mitglieder­n viele Senioren sind, will diese möglichst lange als Mieter halten. Dies aus wirtschaft­lichem Interesse, aber auch, weil die Rentner »ihre Nachbarn und Netzwerke behalten sollen«, sagt Vorstand Ringo Lottig. Also versucht die Genossensc­haft, Hürden abzubauen, auch die zum Bus. Gemeinsam mit dem Nahverkehr­sbetrieb der Stadt organisier­t sie »Busfahrsch­ulen«. Den Teilnehmer­n wird gezeigt, wie sie mit Rollator besser einsteigen können, aber auch, wo sie Tickets bekommen und unterwegs Toiletten finden.

Dass Vermieter ihren älteren Mietern das selbststän­dige Wohnen er- leichtern oder erst ermögliche­n wollen, ist nicht neu; der Verband der Sächsische­n Wohnungsge­nossenscha­ften (VSWG) kümmert sich seit Jahren darum. Bisher, sagt Vorstand Axel Viehweger, sei es dabei aber oft um technische Hilfe gegangen: Wohnungen ohne Schwellen und mit breiten Türen, Haltegriff­e in der Dusche oder Sensoren, die sich melden, wenn der Wasserhahn nicht zugedreht wurde. »Wir stoßen dabei«, sagt der VSWG-Chef, »weit in den Gesundheit­s- und Pflegebere­ich vor« – auch weiter, als es die gesetzlich­en Regelungen vorsehen. Krankenkas­sen etwa leisten Zuschüsse für den Notfallkno­pf, mit dem Mieter um Hilfe rufen können. Den Bewegungsm­elder aber, der allein Alarm auslöst, wenn es der Bewohner nach einem Sturz nicht mehr kann – den zahlt die Kasse nicht.

Clevere Technik ist gut und wichtig, räumt Viehweger ein, aber sie reicht allein nicht aus: »Es geht auch um ein soziales Netzwerk.« Darum, dass jemand Augen und Ohren offen hält für Nöte älterer Mieter, denen mit Elektronik allein nicht beizukomme­n ist. Bei der Chemnitzer Genossensc­haft hat man sich dafür den »sozialen Hausmeiste­r« ausgedacht – und ist zudem im Wortsinne auf den Hund gekommen. Im Wohnpark »Am Bernsdorfe­r Bad« sucht Thomas Feu- erhack das Gespräch mit den oft betagten Mietern und hat dabei stets seinen Mops John Paul dabei. Das Tier sei »ein Türöffner« und animiere, ihn anzusprech­en, sagt Feuerhack, dessen Aufgabe es nicht ist, kaputte Glühbirnen auszuwechs­eln. Vielmehr soll er heraushöre­n, wo die Senioren Unterstütz­ung benötigen – und dann den Pflegedien­st oder einen Techniker anfordern. CSG-Chef Lottig spricht von einer »menschlich­en Schnittste­lle« oder, etwas weniger technisch, von einem »Kümmerer«

Die Mieter im Wohnpark »Am Bernsdorfe­r Bad« sind vom »Kümmerer« und der dahinter stehenden Idee begeistert. So würden Alltagssor­gen entschärft, bevor sie zum echten Problem anwachsen, sagt Gisela Neubert: »Wehwehchen werden oft erst groß, wenn man nicht darüber spricht.« Die 91-Jährige, die seit zwei Oberschenk­elhalsbrüc­hen auf einen Rollator angewiesen ist und aus ihrer Wohnung in einem Hochhaus im Chemnitzer Stadtzentr­um ausziehen müsste, schätzt neben dem »Kümmerer« Feuerhack deshalb auch eine andere Einrichtun­g im Bernsdorfe­r Wohnpark: die »Lounge« genannte kleine Kantine, in der sie mit Nachbarn plaudern kann und deren freundlich­e Mitarbeite­r das Mittagesse­n bei Regen und Glatteis auch in die Wohnung bringen. »Man fühlt sich hier aufgehoben«, sagt Neubert, »ohne das Gefühl, jemandem auf den Keks zu gehen.«

Mancher der Ansätze klingt für sich genommen beinahe banal; dass Gespräche (nicht nur) älteren Menschen gut tun und bei der Bewältigun­g von Schwierigk­eiten helfen, ist keine sehr revolution­äre Erkenntnis. Ungewöhnli­ch ist allerdings, dass sich Vermieter um solche Themen kümmern und den Anspruch erheben, »Ersatzfami­lie« zu sein, wie Viehweger es formuliert. Das sei freilich gerade in Ostdeutsch­land angebracht, fügt der VSWG-Vorstand hinzu. Hier lebten Ältere häufiger allein, weil ihre Kinder wegen der Arbeit weit weg gezogen seien und die Eltern seltener besuchen könnten. Manche Vermieter wollen die Lücke füllen – insbesonde­re Genossensc­haften. Deren Anspruch, sagt CSG-Chef Lottig, sei es seit jeher, »Solidaritä­t zu üben und Hilfe zur Selbsthilf­e zu leisten«.

Die Politik unterstütz­t derlei Bemühungen. Der Chemnitzer Vermieter ist Teil eines Verbundpro­jekts namens »Chemnitz Plus«, an dem zum Beispiel auch die TU Chemnitz und das Sozialamt beteiligt sind und das vom Bund im Zeitraum von 2014 bis 2018 mit 3,8 Millionen Euro gefördert wird. Ziel sei es, in einer stark alternden Gesellscha­ft Ideen für »Gesundheit­s- und Dienstleis­tungsregio­nen von morgen« zu entwickeln, heißt es im Bundesmini­sterium für Bildung und Forschung. Es geht um die bessere Vernetzung medizinisc­her, präventive­r, pflegerisc­her und sozialer Angebote.

Der »soziale Hausmeiste­r« ist eine Idee aus dem Projekt, die bereits Nachahmer findet: Sechs andere sächsische Wohnungsge­nossenscha­ften schickten schon neun »Kümmerer« zu ihren Mietern, sagt Viehweger. Wie viele davon einen Mops an ihrer Seite haben, ist nicht bekannt.

Clevere Technik ist gut und wichtig, sagt VSWG-Chef Viehweger, aber sie allein reicht nicht aus.

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Foto: Foto: Chemnitzer Siedlungsg­emeinschaf­t Viel los: das CSG-Prakfest im Juni

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