Chemnitzer Modell mit Mops
Wie sächsische Wohnungsgenossenschaften versuchen, für ihre älteren Mieter eine »Ersatzfamilie« zu sein
Ältere Mieter sollen möglichst lange in ihren eigenen vier Wänden wohnen. Dieses Ziel haben mehrere sächsische Wohnungsgenossenschaften – die auch wissen, dass dabei nicht nur clevere Technik hilft. Was vergrault ältere Menschen aus ihrer eigenen Wohnung? In manchen Fällen sind es Bus und Bahn. Genauer: eine wenige Zentimeter hohe Schwelle zwischen Bordstein und Fahrzeug, die sie mit dem Rollator nicht überwinden können. Die Folge: Sie fahren nicht mehr ins Stadtzentrum, ihre Einkaufsmöglichkeiten verschlechtern sich. Häufen sich solcherlei Einschränkungen, ziehen sie irgendwann resigniert in das betreute Wohnen.
Bei der Chemnitzer Siedlungsgemeinschaft (CSG) soll es dazu nicht kommen. Die Genossenschaft, unter deren über 9500 Mitgliedern viele Senioren sind, will diese möglichst lange als Mieter halten. Dies aus wirtschaftlichem Interesse, aber auch, weil die Rentner »ihre Nachbarn und Netzwerke behalten sollen«, sagt Vorstand Ringo Lottig. Also versucht die Genossenschaft, Hürden abzubauen, auch die zum Bus. Gemeinsam mit dem Nahverkehrsbetrieb der Stadt organisiert sie »Busfahrschulen«. Den Teilnehmern wird gezeigt, wie sie mit Rollator besser einsteigen können, aber auch, wo sie Tickets bekommen und unterwegs Toiletten finden.
Dass Vermieter ihren älteren Mietern das selbstständige Wohnen er- leichtern oder erst ermöglichen wollen, ist nicht neu; der Verband der Sächsischen Wohnungsgenossenschaften (VSWG) kümmert sich seit Jahren darum. Bisher, sagt Vorstand Axel Viehweger, sei es dabei aber oft um technische Hilfe gegangen: Wohnungen ohne Schwellen und mit breiten Türen, Haltegriffe in der Dusche oder Sensoren, die sich melden, wenn der Wasserhahn nicht zugedreht wurde. »Wir stoßen dabei«, sagt der VSWG-Chef, »weit in den Gesundheits- und Pflegebereich vor« – auch weiter, als es die gesetzlichen Regelungen vorsehen. Krankenkassen etwa leisten Zuschüsse für den Notfallknopf, mit dem Mieter um Hilfe rufen können. Den Bewegungsmelder aber, der allein Alarm auslöst, wenn es der Bewohner nach einem Sturz nicht mehr kann – den zahlt die Kasse nicht.
Clevere Technik ist gut und wichtig, räumt Viehweger ein, aber sie reicht allein nicht aus: »Es geht auch um ein soziales Netzwerk.« Darum, dass jemand Augen und Ohren offen hält für Nöte älterer Mieter, denen mit Elektronik allein nicht beizukommen ist. Bei der Chemnitzer Genossenschaft hat man sich dafür den »sozialen Hausmeister« ausgedacht – und ist zudem im Wortsinne auf den Hund gekommen. Im Wohnpark »Am Bernsdorfer Bad« sucht Thomas Feu- erhack das Gespräch mit den oft betagten Mietern und hat dabei stets seinen Mops John Paul dabei. Das Tier sei »ein Türöffner« und animiere, ihn anzusprechen, sagt Feuerhack, dessen Aufgabe es nicht ist, kaputte Glühbirnen auszuwechseln. Vielmehr soll er heraushören, wo die Senioren Unterstützung benötigen – und dann den Pflegedienst oder einen Techniker anfordern. CSG-Chef Lottig spricht von einer »menschlichen Schnittstelle« oder, etwas weniger technisch, von einem »Kümmerer«
Die Mieter im Wohnpark »Am Bernsdorfer Bad« sind vom »Kümmerer« und der dahinter stehenden Idee begeistert. So würden Alltagssorgen entschärft, bevor sie zum echten Problem anwachsen, sagt Gisela Neubert: »Wehwehchen werden oft erst groß, wenn man nicht darüber spricht.« Die 91-Jährige, die seit zwei Oberschenkelhalsbrüchen auf einen Rollator angewiesen ist und aus ihrer Wohnung in einem Hochhaus im Chemnitzer Stadtzentrum ausziehen müsste, schätzt neben dem »Kümmerer« Feuerhack deshalb auch eine andere Einrichtung im Bernsdorfer Wohnpark: die »Lounge« genannte kleine Kantine, in der sie mit Nachbarn plaudern kann und deren freundliche Mitarbeiter das Mittagessen bei Regen und Glatteis auch in die Wohnung bringen. »Man fühlt sich hier aufgehoben«, sagt Neubert, »ohne das Gefühl, jemandem auf den Keks zu gehen.«
Mancher der Ansätze klingt für sich genommen beinahe banal; dass Gespräche (nicht nur) älteren Menschen gut tun und bei der Bewältigung von Schwierigkeiten helfen, ist keine sehr revolutionäre Erkenntnis. Ungewöhnlich ist allerdings, dass sich Vermieter um solche Themen kümmern und den Anspruch erheben, »Ersatzfamilie« zu sein, wie Viehweger es formuliert. Das sei freilich gerade in Ostdeutschland angebracht, fügt der VSWG-Vorstand hinzu. Hier lebten Ältere häufiger allein, weil ihre Kinder wegen der Arbeit weit weg gezogen seien und die Eltern seltener besuchen könnten. Manche Vermieter wollen die Lücke füllen – insbesondere Genossenschaften. Deren Anspruch, sagt CSG-Chef Lottig, sei es seit jeher, »Solidarität zu üben und Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten«.
Die Politik unterstützt derlei Bemühungen. Der Chemnitzer Vermieter ist Teil eines Verbundprojekts namens »Chemnitz Plus«, an dem zum Beispiel auch die TU Chemnitz und das Sozialamt beteiligt sind und das vom Bund im Zeitraum von 2014 bis 2018 mit 3,8 Millionen Euro gefördert wird. Ziel sei es, in einer stark alternden Gesellschaft Ideen für »Gesundheits- und Dienstleistungsregionen von morgen« zu entwickeln, heißt es im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Es geht um die bessere Vernetzung medizinischer, präventiver, pflegerischer und sozialer Angebote.
Der »soziale Hausmeister« ist eine Idee aus dem Projekt, die bereits Nachahmer findet: Sechs andere sächsische Wohnungsgenossenschaften schickten schon neun »Kümmerer« zu ihren Mietern, sagt Viehweger. Wie viele davon einen Mops an ihrer Seite haben, ist nicht bekannt.
Clevere Technik ist gut und wichtig, sagt VSWG-Chef Viehweger, aber sie allein reicht nicht aus.