Ein Toter als Ratgeber
Daniela Danz: »Lange Fluchten« ist deutlich der Roman einer Lyrikerin
Viele der Gedichte von Daniela Danz (1976 in Eisenach geboren und auch heute in Thüringen lebend) suchen die Spur des Menschen in der Weltgeschichte, andere schöpfen aus seinem Einssein mit der Natur. In ihrer Lyrik wäre es keine Überraschung, verwandelte sich ein Mensch in einen Vogel oder eine Biene und stiege auf in die Luft. In ihrem Roman »Lange Fluchten« wird es schwer, diesen gedachten, geträumten oder anders imaginierten Weltenwechseln zu folgen.
Neben ihrer außerordentlichen Lyrik, die wohl die Hauptform für Daniela Danz ist, gibt es zum zweiten Mal einen Roman. Nach »Der Türmer« erscheint zehn Jahre später »Lange Fluchten«. Im ersten Roman wurde nicht ganz klar, wie sich die beiden darin erzählten Geschichten aufeinander beziehen. Es schienen eher zwei Erzählungen zu sein. Das neue Buch bietet dem Leser eine nachvollziehbare Grundgeschichte. Constantin, genannt Cons, hat seine zwölf Jahre als Zeitsoldat beim Bund in Unehren beendet. Bei einer Übung – er war in seiner Dienststellung immerhin für andere Soldaten verantwortlich – hat er sich einfach auf und davon gemacht. Dabei hatte er sich aus Überzeugung für den Soldatenberuf entschieden. In der Armee ist für den, der sich vom Selber-Entscheiden überfordert fühlt, alles geregelt und übersichtlich. Offensichtlich funktioniert es für manche wie beim Hund. Seinem Herrn zu dienen, macht ihn glücklich. Cons auch, aber er verdirbt sich leider sein Glück.
Dass der Leser nicht erfährt, was ihn von seiner Soldaten-Einheit weggelockt hat, ist in der Literatur richtig. Wir wollen ja keinen Fall diskutieren, sondern einem Menschen als literarische Figur begegnen. Cons’ Ungewöhnlichkeit weckt Interesse von Beginn an. Er lebt in einem Container, beide sind ziemlich heruntergekommen. Über ihm wohnt Anne, seine Frau, mit den beiden Kindern. Das Provisorium ist eine Folge seines Scheiterns als Soldat. Er wollte für seine Familie ein Haus bauen und kann den Rohbau nicht vollenden. Vielleicht fehlt ohne Job beim Bund das Geld, in jedem Fall aber der Elan.
Daniela Danz schreibt über eine Figur, der das Leben nicht leicht fällt und die aus sich selbst heraus keinen Plan fürs Gelingen machen kann. Wahrscheinlich geht es uns mehr oder weniger allen so, aber wir trauen uns nicht (und anderen gegenüber schon gar nicht), es einzugestehen. Für solche Figuren ist Literatur der richtige Ort. Allerdings ist die Frage nach der Kraft, die ein Mensch braucht, um seinen Fluchtimpuls zu besiegen, eine Frage nach dem richtigen Leben überhaupt, und über die ist höllisch schwer zu reden. Sie zu beantworten, geht schon gar nicht.
Daniela Danz stellt ihrem Cons eine Figur an die Seite, die als großer Retter, Beschwörer und Beantworter auftritt. Dieser Henning hat vor einer Krankheit zum Tode die Waffen gestreckt und sich das Leben genommen, spricht aber in nachgelassenen Briefen weiter mit seinem Freund Cons. Diese durch und durch gute und lebenskluge Mensch ist jedoch leider keine spannende Romanfigur geworden und nimmt noch als Toter viel Raum ein. Wäre er aus Fleisch und Blut, hätte er wenigstens auch Fehler, aber Henning hat Cons schon in früheren Jahren das Leben gerettet, also darf er es ihm auch nehmen – vorausgesetzt die Deutung des Romanendes als Freitod stimmt.
Mit der Frage nach Fleisch und Blut darf man dem Roman von Daniela Danz eigentlich nicht kommen, denn deutlich ist »Lange Fluchten« der Roman einer Lyrikerin. Dass der poetische Raum größer ist als der reale, zeichnet Literatur von Virginia Woolfe bis Antje Ravic Strubel, von Franz Kafka bis Thomas von Steinaecker aus. Demzufolge muss Henning auch nicht die passende Stütze für Cons sein. Denn – und so deute ich das schlussendliche Aufsteigen in die Luft – Cons nimmt sich nach Hennings Vorbild am Ende des Romans ebenfalls das Leben. »Henning sagte, ich solle ihm folgen«, heißt es. Deutungen, die nur auf einen Satz gründen, sind auch in der poetischen Literatur schwierig. In einem Roman muss nicht alles, was erzählt wird, sicher sein, absolut nicht, aber es darf auch nicht zu viel in die Luft aufsteigen und zu der abwegigen Frage führen: Ist Cons nun ein Vogel oder eine Biene?