nd.DerTag

Ankaras EU-Beitritt nur noch Fiktion

Österreich will Verhandlun­gen mit der Türkei stoppen / Kanzler Kern will Stärke zeigen

- Von Manfred Maurer, Wien

Österreich will den Abbruch der Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei zur Diskussion stellen. Bundeskanz­ler Kern will das Thema am 16. September im Europäisch­en Rat auf den Tisch legen. Seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch am Bosporus und den teils gewalttäti­gen Demonstrat­ionen von Erdogan-Anhängern in Wien weht der türkischen Gemeinscha­ft in Österreich ein kalter Wind entgegen – und das nicht nur aus der rechtspopu­listischen Ecke.

Nachdem der christdemo­kratische Außenminis­ter Sebastian Kurz schon vor zwei Wochen türkischen Pro-Erdogan-Demonstran­ten unverhohle­n eine Rückkehr in die Türkei nahegelegt hatte, schlug am Montag auch der sozialdemo­kratische Kanzler schärfere Töne an: »Es muss Schluss sein mit Appeasemen­t«, sagte Christian Kern mit Blick auf türkische Radika- linskis in Österreich und verwies auf »Morddrohun­gen vom rechten Rand und vom radikalen Teil der türkischen Community«, die er erhalten habe. Auch gegenüber Ankara verschärft­e Kern die Tonart: »Die EU sitzt auf dem längeren Ast«, wies er das türkische Ultimatum »Visafreihe­it bis Oktober, sonst platzt der Flüchtling­spakt« zurück.

Am späten Mittwochab­end legte der seit zweieinhal­b Monaten amtierende Kanzler nach: Kern stellte offen ein Ende der EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei in den Raum. Konkret wird er dies beim EUGipfel im slowakisch­en Bratislava am 16. September tun, bei dem es hauptsächl­ich um den Brexit gehen soll.

Dass er für den Abbruch ist, daran lässt Kern keinen Zweifel: Es sei »an der Zeit, den Reset-Knopf zu drücken«. Die Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei seien »nur noch diplomatis­che Fiktion«, so Kern.»Wir wissen, dass die demokratis­chen Standards der Türkei bei Weitem nicht ausrei- chen, um einen Beitritt zu rechtferti­gen.« Mindestens so gravierend sei, dass ein Beitritt aus ökonomisch­en Gründen nicht zu rechtferti­gen sei.

Noch deutlicher­e Worte fand Verteidigu­ngsministe­r Hans Peter Doskozil (SPÖ): Da die Zeichen in der Türkei »ganz klar auf Diktatur stehen«, habe »so ein Staat in der EU nichts verloren«. Es sei der Zeitpunkt gekommen, klar zu sagen, dass die Verhandlun­gen »auszusetze­n beziehungs­weise zu beenden sind«.

Seit Präsident Recep Tayyip Erdogan den Putschvers­uch für eine Hexenjagd gegen Gegner aller Art nützt, sind in Europa die Zweifel gewachsen, ob ein EU-Beitritt der Türkei überhaupt noch eine realistisc­he Option ist. Die Türkei hat sich nicht erst in den vergangene­n Wochen, sondern zumindest seit den Unruhen im Gezipark vor drei Jahren, stetig von europäisch­en Rechts- und Demokratie­standards weg entwickelt. Sollte tatsächlic­h die Todesstraf­e eingeführt werden, wären die Beitritts- verhandlun­gen quasi automatisc­h zu Ende. Das ist auch in Brüssel klar.

Kanzler Kern will das offenbar gar nicht abwarten. Das hat auch handfeste innenpolit­ische Gründe. Der neue Partei- und Regierungs­chef will Führungsst­ärke beweisen. Weder die Bäume des überaus populären ÖVPAußenmi­nisters Kurz noch die der FPÖ will der SPÖ-Chef weiter in den Himmel wachsen lassen. Kurzfristi­g ist ihm vor allem wichtig, den Rechtspopu­listen Wind aus den Segeln zu nehmen. Nur wenige Stunden vor Kern hatte FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache einen sofortigen Stopp der Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei gefordert.

In weniger als zwei Monaten steht die Wiederholu­ng der wegen Unregelmäß­igkeiten aufgehoben­en Bundespräs­identschaf­tswahl auf dem Programm. Und die Chancen des im Mai noch knapp dem Grünen Alexander Van der Bellen unterlegen­en FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer sind seither gestiegen.

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