Verrückte Welt, verrücktes IOC
In Rio startet ein Flüchtlingsteam, zuvor wurden Nationale Olympische Komitees entmacht
Das IOC lässt bei den Spielen ein Flüchtlingsteam unter eigener Flagge starten. Damit werden den Nationalen Olympischen Komitees die Entscheidungen über die Startplätze abgenommen. Schon im März hatte die Schwimmerin Yusra Mardini, 18, in Berlin vor fast 100 Journalisten gesessen. Und vor einer Batterie von Kameraobjektiven von jener dramatischen und abenteuerlichen Geschichte ihrer Flucht aus Syrien erzählt. Von ihrem Weg über Libanon in die Türkei. Von der Bootsfahrt hinüber zur griechischen Insel Lesbos, als sie und ihre Schwester das Boot mit einem dritten Flüchtling mit schier übermenschlichen Kräften an den Strand zogen hatten, weil der Außenbordmotor ausgefallen war. Wie sie von dort aus nach Deutschland weitermarschierten.
Jetzt saß Mardini, blütenweißes Hemd, strahlendes Lächeln, Zahnlücke, erneut vor der versammelten Weltpresse. Und erzählte im Olympischen Park von Rio de Janeiro vor noch mehr Journalisten erneut ihre bewegte Geschichte, gemeinsam mit anderen Schicksalsgefährten aus Syrien, der Demokratischen Republik Kongo und dem Südsudan. Und dass sie den vielen Flüchtlingen Mut und Zuversicht geben wolle. »Ich hoffe, dass jeder weiter an der Verwirklichung seiner Träume arbeitet«, sagte Mardini.
Neben ihr auf dem Podium: Tegla Loroupe, einst eine Langstreckenläuferin aus Kenia. Sie ist die Chefin de Mission dieses Teams of Refugee of Olympic Athletes (ROT) und sie pries überschwänglich den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach. Loroupe dankte Bach für die Humanität dieses Projektes. Es sei vor allem an dem Präsidenten gelegen, dass die Flüchtlinge in Rio starten dürften.
Es ist eine Geschichte, die aufzeigt, was möglich ist, wenn das IOC eine Sache unbedingt durchziehen will. Denn die Entsendung eines Teams ist laut Verfassung der Olympischen Bewegung dem IOC nicht gestattet.
Dieses Recht ist laut der Regel 27 der Charta ausschließlich den Nationalen Olympischen Komitees vorbehalten. »Wenn man die Charta dem Sinn und dem Wortlaut genau folgt, dann ist klar, dass nur Nationale Olympische Komitees Sportler zu den Spielen entsenden dürfen«, so der Kölner Sporthistoriker Manfred Lämmer, der die Charta auf Deutsch herausgegeben hat. Mit Verweis auf diese Regel hatte das IOC die Teilnahme eines Flüchtlingsteams bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki brüsk abgelehnt, daran erinnert nun ein Aufsatz in der neuen Ausgabe des Journals of Olympic History. Damals hatte eine Flüchtlingsorganisation den Wunsch vorgetragen, diejenigen Sportler, die vor den Kommunisten aus dem Ostblock geflohen waren, in einem eigenen Team nach Helsinki fahren zu lassen.
Wenn das IOC nun entscheide, die Flüchtlinge unter olympischer Flagge starten zu lassen, sei das »nicht weniger als eine Entmachtung der Nationalen Olympischen Komitees (NOK)«, so Lämmer. »Rechtlich ist das äußerst bedenklich.« So sieht es auch das Ehrenmitglied des IOC, Walther Tröger: »Es ist im Prinzip eine Entmachtung der NOK, und ist aus meiner Sicht klar, dass dies nicht zur Regel werden darf.«
Die Charta sei hier nicht mehr zeitgemäß, sagt Tröger. Er habe »schon länger darauf hingewiesen, dass viele Regeln aus der Olympischen Charta einer Überprüfung unterzogen werden müssten«. Andererseits will er diesen politischen Akt nicht geißeln: »Die Welt ist verrückt, und das IOC muss irgendwie auf diese Verrücktheiten reagieren.« Wenn ein NOK eines Landes nicht arbeitsfähig sei, »dann müssen Sportler doch die Möglichkeiten haben, an den Spielen teilzunehmen«.
Nicht nur Tröger ist sich der Brisanz, die in dem Flüchtlingsteam steckt, bewusst. »Was passiert denn, wenn sich das IOC entscheidet, Flüchtlinge aus dem Iran unter IOCFlagge starten zu lassen, und ein iranischer Flüchtling muss gegen einen iranischen Athleten antreten, der unter iranischer Flagge startet?«, fragt Lämmer rhetorisch. »Das Ganze funktioniert nur, weil die Nationalen Olympischen Komitees, aus deren Gebieten die Flüchtlinge stammen, nicht opponieren.«
Beim Deutschen Olympischen Sportbund sieht man die Sache gelassener. Auf die Frage, ob er damit einverstanden sei, dass das IOC seine eigenen Statuten nicht beachte, erklärte DOSB-Präsident Alfons Hörmann: Angesichts von über 60 Millionen Kriegsflüchtlingen halte er die Zusammenarbeit von IOC und dem Flüchtlingshilfswerk der UN »für äußerst sinnvoll«.