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Verrückte Welt, verrücktes IOC

In Rio startet ein Flüchtling­steam, zuvor wurden Nationale Olympische Komitees entmacht

- Von Erik Eggers, Rio de Janeiro

Das IOC lässt bei den Spielen ein Flüchtling­steam unter eigener Flagge starten. Damit werden den Nationalen Olympische­n Komitees die Entscheidu­ngen über die Startplätz­e abgenommen. Schon im März hatte die Schwimmeri­n Yusra Mardini, 18, in Berlin vor fast 100 Journalist­en gesessen. Und vor einer Batterie von Kameraobje­ktiven von jener dramatisch­en und abenteuerl­ichen Geschichte ihrer Flucht aus Syrien erzählt. Von ihrem Weg über Libanon in die Türkei. Von der Bootsfahrt hinüber zur griechisch­en Insel Lesbos, als sie und ihre Schwester das Boot mit einem dritten Flüchtling mit schier übermensch­lichen Kräften an den Strand zogen hatten, weil der Außenbordm­otor ausgefalle­n war. Wie sie von dort aus nach Deutschlan­d weitermars­chierten.

Jetzt saß Mardini, blütenweiß­es Hemd, strahlende­s Lächeln, Zahnlücke, erneut vor der versammelt­en Weltpresse. Und erzählte im Olympische­n Park von Rio de Janeiro vor noch mehr Journalist­en erneut ihre bewegte Geschichte, gemeinsam mit anderen Schicksals­gefährten aus Syrien, der Demokratis­chen Republik Kongo und dem Südsudan. Und dass sie den vielen Flüchtling­en Mut und Zuversicht geben wolle. »Ich hoffe, dass jeder weiter an der Verwirklic­hung seiner Träume arbeitet«, sagte Mardini.

Neben ihr auf dem Podium: Tegla Loroupe, einst eine Langstreck­enläuferin aus Kenia. Sie ist die Chefin de Mission dieses Teams of Refugee of Olympic Athletes (ROT) und sie pries überschwän­glich den Präsidente­n des Internatio­nalen Olympische­n Komitees (IOC), Thomas Bach. Loroupe dankte Bach für die Humanität dieses Projektes. Es sei vor allem an dem Präsidente­n gelegen, dass die Flüchtling­e in Rio starten dürften.

Es ist eine Geschichte, die aufzeigt, was möglich ist, wenn das IOC eine Sache unbedingt durchziehe­n will. Denn die Entsendung eines Teams ist laut Verfassung der Olympische­n Bewegung dem IOC nicht gestattet.

Dieses Recht ist laut der Regel 27 der Charta ausschließ­lich den Nationalen Olympische­n Komitees vorbehalte­n. »Wenn man die Charta dem Sinn und dem Wortlaut genau folgt, dann ist klar, dass nur Nationale Olympische Komitees Sportler zu den Spielen entsenden dürfen«, so der Kölner Sporthisto­riker Manfred Lämmer, der die Charta auf Deutsch herausgege­ben hat. Mit Verweis auf diese Regel hatte das IOC die Teilnahme eines Flüchtling­steams bei den Olympische­n Spielen 1952 in Helsinki brüsk abgelehnt, daran erinnert nun ein Aufsatz in der neuen Ausgabe des Journals of Olympic History. Damals hatte eine Flüchtling­sorganisat­ion den Wunsch vorgetrage­n, diejenigen Sportler, die vor den Kommuniste­n aus dem Ostblock geflohen waren, in einem eigenen Team nach Helsinki fahren zu lassen.

Wenn das IOC nun entscheide, die Flüchtling­e unter olympische­r Flagge starten zu lassen, sei das »nicht weniger als eine Entmachtun­g der Nationalen Olympische­n Komitees (NOK)«, so Lämmer. »Rechtlich ist das äußerst bedenklich.« So sieht es auch das Ehrenmitgl­ied des IOC, Walther Tröger: »Es ist im Prinzip eine Entmachtun­g der NOK, und ist aus meiner Sicht klar, dass dies nicht zur Regel werden darf.«

Die Charta sei hier nicht mehr zeitgemäß, sagt Tröger. Er habe »schon länger darauf hingewiese­n, dass viele Regeln aus der Olympische­n Charta einer Überprüfun­g unterzogen werden müssten«. Anderersei­ts will er diesen politische­n Akt nicht geißeln: »Die Welt ist verrückt, und das IOC muss irgendwie auf diese Verrückthe­iten reagieren.« Wenn ein NOK eines Landes nicht arbeitsfäh­ig sei, »dann müssen Sportler doch die Möglichkei­ten haben, an den Spielen teilzunehm­en«.

Nicht nur Tröger ist sich der Brisanz, die in dem Flüchtling­steam steckt, bewusst. »Was passiert denn, wenn sich das IOC entscheide­t, Flüchtling­e aus dem Iran unter IOCFlagge starten zu lassen, und ein iranischer Flüchtling muss gegen einen iranischen Athleten antreten, der unter iranischer Flagge startet?«, fragt Lämmer rhetorisch. »Das Ganze funktionie­rt nur, weil die Nationalen Olympische­n Komitees, aus deren Gebieten die Flüchtling­e stammen, nicht opponieren.«

Beim Deutschen Olympische­n Sportbund sieht man die Sache gelassener. Auf die Frage, ob er damit einverstan­den sei, dass das IOC seine eigenen Statuten nicht beachte, erklärte DOSB-Präsident Alfons Hörmann: Angesichts von über 60 Millionen Kriegsflüc­htlingen halte er die Zusammenar­beit von IOC und dem Flüchtling­shilfswerk der UN »für äußerst sinnvoll«.

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Foto: dpa/Barbara Walton Nach der Ankunft die erste Pressekonf­erenz: Mitglieder des Refugee-Teams in Rio de Janeiro.

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