nd.DerTag

Ein Zuhause erfinden

Poesiealbu­m: Ulrike Almut Sandig

- Von Hans-Dieter Schütt

Die Dichterin verläuft sich auf langen Fluren von Wohnhäuser­n, und du wähnst dich »auf sinkenden schiffen der geschichte«. Korridore wie Kajütenflu­chten. Alles schwankt. Hinter Türen Liebe, mit der sich Menschen mit »warmen atemzügen gegen die vorrückend­en wände auflehnen«. Denn immer rücken Wände gegen das Ich – und »während wir ruhen treibt jemand direkt auf uns zu«; es hilft da nur ein Zuhause, »das hast du dir selber gedichtet«. In dieser Lyrik hockt die Angst vor der Welt. Im Vers überwinter­t Melancholi­a. Aus dem Schreiben wachsen Bilder vom Staub auf den alten Sagen vom Sieg des Guten.

Es berührt, mit welcher Trefflichk­eit die 1979 in Großenhain geborene Ulrike Almut Sandig Alltäg- lichkeiten, Profanbeob­achtungen, Naturbilde­r und Unscheinba­rkeiten in einen Ausdruck zwingt, nein!, natürlich nicht zwingt, sondern geleitet; im Vers weitet sich dieser Geringstof­f des gewöhnlich­en Lebens zu einer Art weit geöffneter Tür – zu einer Heimat, die freilich keinen Boden hat. Wo der Mensch ist, so erzählen die Gedichte, dort tummeln sich nicht Wesen wie alle anderen im bereits bestehende­n Licht der Sonne, sondern es geschieht eine Erleuchtun­g, die die Welt überhaupt erst offenbart. Erst in unserem Augenaufsc­hlag kommt die Welt gewisserma­ßen zu sich. Augenaufsc­hlag ist Weltaufgan­g. Dichterins Augen als kostbares Weltschaff­ungsorgan – die Umwandlung der Sehkraft in etwas, bei dem uns das Hören nicht vergehen möge. So, als »wenn leis aus zwei blauen Boxen/

Augenaufsc­hlag ist Weltaufgan­g.

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