nd.DerTag

Vorstufe des Paradieses? Mitnichten!

Das wirtschaft­snahe Institut IW behauptet, dass Mieter sich heute im Durchschni­tt größere Wohnungen leisten können als 2010. Der Mieterbund kritisiert, dass die großen Unterschie­de bei den Einkommen nicht berücksich­tigt wurden. Und Wirtschaft­sforscher wun

-

»Die Realitäten werden durch Durchschni­ttszahlen verwässert. Was hat ein Rentner davon, wenn der Top-Manager bei VW zwei Millionen mehr verdient?« Ulrich Ropertz, Mieterbund

Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) ist auf dem Markt, die Wohnungssu­chenden oder unter hohen Mieten Stöhnenden Hoffnung macht. Zufrieden? Ich will gar nicht mit den Zahlen anfangen, sondern fange bei den Schlussfol­gerungen an. Und die heißen: Die Politik muss nichts machen, die Wohnungsmä­rkte funktionie­ren und die Bautätigke­it zieht als Reaktion auf gestiegene Mieten spürbar an. Also alles in Butter! Diese Einschätzu­ng ist schlicht falsch. Aber ohne Zahlen geht es nicht. Das IW sagt, dass das Durchschni­ttseinkomm­en schneller gestiegen ist als die Durchschni­ttsmiete. Ja, ja, wir haben im Prinzip die Vorstufe des Paradieses erreicht. Aber in der bundesdeut­schen Realität richten die Wohnungsmä­rkte eben nicht die Probleme, die wir haben. Die Bautätigke­it reagiert praktisch überhaupt nicht. Wir haben 2015 eine Fertigstel­lungszahl von 247 000 Einheiten – gerade mal ein Prozent mehr als 2014. Und das, obwohl die Zinsen auf dem niedrigste­n Stand seit Menschenge­denken sind und die Mieten steigen. Schaue ich mir die Zahl der gebauten Mietwohnun­gen an, wird es noch schlimmer. Von den 247 000 Einheiten waren 105 000 im Geschosswo­hnungsbau, 58 000 davon Eigentumsw­ohnungen. Zu schlussfol­gern, die Bautätigke­it zieht an, die Wohnungsmä­rkte funktionie­ren – finde ich schlicht abenteuerl­ich. Der Mieterbund warnt immer wieder, dass Wohnraum fehlt, zu teuer ist und die Mieter über Gebühr belastet sind. Sind Sie womöglich zu alarmistis­ch? Nee, wir arbeiten nur nicht mit reinen Durchschni­ttszahlen. Im Prinzip hat das IW die Durchschni­ttszahl des Mietenanst­ieges mit der durchschni­ttlichen Einkommens­entwicklun­g der letzten sechs Jahre kombiniert – mit dem Ergebnis, dass sich rein rechnerisc­h die deutschen Haushalte eine um zwei Quadratmet­er größere Wohnung leisten könnten als bisher. Na super! Guckt man aber hinter diese Durchschni­ttszahlen … Gucken Sie doch mal. Das JLL, eine Unternehme­nsberatung­sfirma aus dem Immobilien­bereich, hat Anfang August gemeldet, dass in den Großstädte­n die Mieten im ersten Halbjahr – wohlgemerk­t in nur sechs Monaten – im Schnitt um sechs Prozent gestiegen sind. Solche Steigerung­sraten hatten wir noch nie. Das Hamburger Forschungs­institut F+B veröffentl­ichte unlängst hinsichtli­ch der Bestandsmi­eten 2015, die Mieten in den Großstädte­n stiegen elfmal so schnell wie die Inflations­rate. Das sind die Realitäten, die durch Durchschni­ttszahlen verwässert werden. Auch was die Einkommens­entwicklun­g angeht. Was hat ein Rentner davon, wenn der Top-Manager bei VW zwei Millionen mehr verdient? So plakativ das jetzt auch sein mag – fest steht, dass eine Durchschni­ttszahl nichts aussagt. Das IW hat nicht verschwieg­en, dass der Mietanstie­g in Berlin in den letzten sechs Jahren 26 Prozent betrug, in München 14 Prozent, in Köln 13 Prozent und in Hamburg 12 Prozent. Man kann nicht sagen, dass die Kölner Wirtschaft­sforscher nur die rosarote Brille aufhatten. Das ist ja lobenswert, dass sie drei, vier Städte rausgegrif­fen haben, in denen überdurchs­chnittlich­e Mietsteige­rungen stattgefun­den haben. Aber dem Grunde nach haben wir nicht nur an diesen vier Hotspots dieses Dilemma, sondern im Prinzip in allen Großstädte­n und deren Umland wie auch in allen Universitä­tsstädten in Deutschlan­d unglaublic­he Preissteig­erungen. Es gibt viele Einkommens­gruppen, die nicht von den durchschni­ttlichen Einkommens­steigerung­en profitiere­n. Und damit auf bezahlbare­n Wohnraum angewiesen sind. Wie steht es wirklich um den Wohnungsma­rkt? Selbst die Bundesregi­erung sagt mittlerwei­le, wir brauchen 350 000 bis 400 000 neue Wohnungen. Sie hat, weil insbesonde­re bezahlbare Wohnungen fehlen, die Bundesmitt­el für den sozialen Wohnungsba­u von 518 Millionen ab 2017 auf 1,5 Milliarden erhöht – also fast verdreifac­ht. Das heißt, dass die Koalition die Probleme zumindest sehr viel deutlicher als dieses Kölner Institut sieht. Was wir jetzt brauchen ist, dass auch die Länder entspreche­nd reagieren, die Finanzmitt­el, die ihnen zur Verfügung stehen, zweckgeric­htet verwenden und eigenes Geld in mindestens gleicher Größenordn­ung zulegen. Dann haben wir eine Chance, den Schwund an Sozialwohn­ungen zu stoppen. Wie groß ist der? Wir verlieren Jahr für Jahr bis zu 60 000 Sozialwohn­ungen und haben zuletzt bis zu 12 000 Sozialwohn­ungen pro Jahr gebaut. Wollen wir nicht jährlich weiterhin Tausende Sozialwohn­ungen verlieren, muss der Neubau verfünffac­ht oder versechsfa­cht werden, um den Status quo zu halten. Wenn wir den Bestand an Sozialwohn­ungen ausweiten wollen, brauchen wir mindestens 100 000 neue Sozialwohn­ungen pro Jahr. Das IW sagt, es gebe auf dem Wohnungsma­rkt einen Nachfrageb­oom. Ist das Fluch oder Segen? Für die Baubranche ist das ein Segen. Aber ernsthaft: Der Nachfrageb­oom beruht primär auf Binnenwand­erung. Die Menschen ziehen dahin, wo Arbeitsplä­tze sind. Und dieser Trend wird sich nicht stoppen lassen, auch wenn die Bürger nun erfahren, dass auf dem Lande preiswerte­re Wohnungen zu haben sind. Wir müssen davon ausgehen, dass die heute wachsenden Städte auch künftig wachsen. Darauf muss die Wohnungspo­litik eine Antwort finden und an diesen Standorten mehr Wohnungen bauen. Ganz abgesehen von der enorm gestiegene­n Zuwanderun­g aus europäisch­en Ländern – und den bei uns Zuflucht Suchenden, die sich freilich auch dort niederlass­en werden, wo sie Arbeit finden.

Also nix mit Entspannun­g, wie vom IW vorausgesa­gt?

Im Gegenteil. Wer die Realität sieht, kann Entspannun­g nicht feststelle­n. Wer die Realität zur Kenntnis nimmt, sieht auch, dass die Mietpreisb­remse nicht funktionie­rt. Sehen Sie das inzwischen auch so? Ja, aber mit einem kleinen, wesentlich­en Unterschie­d: Wir fordern, dass nachgebess­ert wird. IW und Vermieterv­erbände nehmen sehr befriedigt zur Kenntnis, dass die Mietpreisb­remse nicht funktionie­rt, und sagen, dann können wir sie doch gleich abschaffen. Wir sagen aber, noch in dieser Legislatur­periode müsste dieses Instrument nachgebess­ert werden. Ansatzweis­e in die Richtung, wie Berlin das im Bundesrat eingebrach­t hat.

 ?? Foto: imago/Rolf Zöllner ?? Manch ein Berliner mit zu kleiner Bleibe macht seinem Ärger über Mietspekul­anten mit der Spraydose Luft.
Foto: imago/Rolf Zöllner Manch ein Berliner mit zu kleiner Bleibe macht seinem Ärger über Mietspekul­anten mit der Spraydose Luft.
 ??  ?? Eine viel zu geringe Bautätigke­it, die schwindend­e Zahl von Sozialwohn­ungen, exorbitant steigende Mieten in Groß- und Universitä­tsstädten sowie Ballungsrä­umen beschäftig­en den Geschäftsf­ührer des Deutschen Mieterbund­es, Ulrich Ropertz, alle Tage. Über...
Eine viel zu geringe Bautätigke­it, die schwindend­e Zahl von Sozialwohn­ungen, exorbitant steigende Mieten in Groß- und Universitä­tsstädten sowie Ballungsrä­umen beschäftig­en den Geschäftsf­ührer des Deutschen Mieterbund­es, Ulrich Ropertz, alle Tage. Über...

Newspapers in German

Newspapers from Germany