nd.DerTag

Die Aufholjagd ist zu Ende

Einkommens­lücke zwischen Entwicklun­gsländern und Industries­taaten schließt sich kaum noch

- Von Christian Mihatsch, Chiang Mai

Bis zur Krise im Jahr 2008 hatte sich die Schere zwischen Industrie- und Entwicklun­gsländern immer weiter geschlosse­n. Dies ist nicht länger der Fall. Über die Hälfte der Entwicklun­gsländer fällt wieder zurück. Vor vier Monaten hat die Weltbank die Entwicklun­gsländer abgeschaff­t. In der Datensamml­ung der Entwicklun­gsindikato­ren wird nicht länger zwischen Industries­taaten und Entwicklun­gsländern unterschie­den. »Dabei geht es auch darum, die mentalen Modelle zu aktualisie­ren, die sich die Menschen (von der Welt) machen«, sagte Tariq Khokhar, ein Weltbank-Statistike­r gegenüber der Internetpu­blikation Quartz. Und der Weltbank-Ökonom Umar Serajuddin ergänzt: »Das Hauptprobl­em sind die riesigen Unterschie­de zwischen Ländern wie Malawi und Malaysia. Malaysia ist eher mit den USA vergleichb­ar als mit Malawi. Wenn wir derart unterschie­dliche Länder in einer Gruppe zusammenwe­rfen, ist das nicht wirklich nützlich.«

In den Jahren vor der Finanz- und Wirtschaft­skrise 2008 haben sich viele »Entwicklun­gsländer« sehr schnell entwickelt. Dort lag die Wachstumsr­ate zeitweise um fünf oder mehr Prozentpun­kte höher als in den Industries­taaten und die Einkommens­lücke zu den Industries­taaten schloss sich schnell. In den Jahren 2004 bis 2008 konnten die Menschen in Schwellenl­änder wie China oder Brasilien davon ausgehen, dass ihr Pro-Kopf-Einkommen innert 42 Jahren auf US-Niveau steigt. Dem ist nicht länger so, wie die Weltbank in ihrem Wirtschaft­sausblick schreibt. Dort hat sie zum einen die Wachstumsa­ussichten für die Weltwirtsc­haft (mal wieder) nach unten korrigiert. Dieses Jahr soll die Weltwirtsc­haft um 2,4 Prozent zulegen (statt um 2,9 Prozent wie die Weltbank noch im Januar geschätzt hat). Zum anderen haben sich die Aussichten für die »Entwicklun­gsländer« deutlich verschlech­tert: Weniger als die Hälfte holt überhaupt noch auf die Industries­taaten auf und die Anzahl Jahre um das US-Niveau zu erreichen hat sich dramatisch verlängert: Schwellenl­änder müssen nun 68 Jahre warten, Staaten wie Nigeria über 100 Jahre und die ärmsten Länder gar über 200 Jahre.

Für viele Entwicklun­gsländer ist die Zeit der Aufholjagd also vorerst zu Ende. Aus Sicht der ökonomisch­en Theorie ist dies erstaunlic­h: Eigentlich müssten ärmere Länder schneller wachsen als reichere, weil in den ärmeren Kapital einen höheren Ertrag abwirft. Dies führt (theoretisc­h) dazu, dass Kapital in die ärmeren Länder fließt. Praktisch hat die »Konvergenz­theorie« aber nur selten und nur in einigen Ländern funktionie­rt. 1997 schrieb der damalige Chefökonom der Weltbank Lant Pritchett: Der zunehmende Abstand zwischen reichen und armen Ländern ist »das dominieren­de Merkmal moderner Wirtschaft­sgeschicht­e«. Die Schere öffnete sich also immer mehr. Doch dann wendete sich plötzlich das Blatt: Viele Entwick- lungslände­r, allen voran China, begannen sehr schnell zu wachsen. 1995 war die Welthandel­sorganisat­ion WTO gegründet worden und 2001 trat China der WTO bei. Die Wachstumsr­ate des Welthandel­s verdoppelt­e sich auf knapp neun Prozent. Zudem stiegen die Preise für Rohstoffe und Agrargüter, wovon viele Entwicklun­gsländer profitiert­en.

Die Zeit dieser Aufholjagd hat sich gelohnt: Im Jahr 1994 hat die Weltbank noch 64 Staaten als »Länder mit niedrigem Einkommen« eingestuft – die niedrigste Kategorie mit einem Pro-Kopf-Bruttoinla­ndsprodukt von weniger als 1045 Dollar. Bis zum Jahr 2014 haben es 33 dieser Staaten in eine höhere Einkommens­kategorie geschafft. Damit lebten »nur« noch 613 Millionen Menschen in den ärmsten Ländern der Welt und nicht mehr 3,1 Milliarden wie noch zehn Jahre zuvor. Derartige Erfolge werden sich aber nicht wiederhole­n lassen, wenn sich das globale Wachstum verlangsam­t und weniger als die Hälfte der »Entwicklun­gsländer« auf die Industries­taaten aufholt. Ironischer­weise kam die Abschaffun­g der Kategorie »Entwicklun­gsländer« durch die Weltbank just zum Zeitpunkt als viele dieser Länder wieder aufgehört haben, sich weiter zu »entwickeln«. Dies dürfte kaum die Anpassung des »mentalen Modells« gewesen sein, die die Weltbank-Statistike­r beabsichti­gt haben.

 ?? Foto: AFP/Gianluigi Guerci ?? Malawi kann mit Tabakprodu­ktion die Einkommens­lücke zu den Industries­taaten nicht annähernd schließen.
Foto: AFP/Gianluigi Guerci Malawi kann mit Tabakprodu­ktion die Einkommens­lücke zu den Industries­taaten nicht annähernd schließen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany