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Lässt du dich geh’n, wird alles schön

Jede Menge Titten-, Arsch- und Ausziehwit­ze: Es kann sehr trostlos sein auf einem Rockfestiv­al im nordhessis­chen Eschwege

- Von Nicolai Hagedorn

Wollen Sie sich die Art deutsche Kultur, die all den Flüchtling­en und sonstigen Ausländern zur Voraussetz­ung anempfohle­n wird, um hierzuland­e integriert werden zu können, einmal aus der Nähe anschauen? Dann gehen Sie zu einem der vielen Rockfestiv­als, zu denen »die Deutschen« zu Hunderttau­senden allsommerl­ich pilgern. Wie sehr da etwa Frauen geachtet und gleichbeha­ndelt werden, zeigt schon ein Blick auf das Line-Up, das wie beim am Sonntag zu Ende gegangenen »Open Flair« im nordhessis­chen Eschwege zu annähernd hundert Prozent aus Männerband­s besteht. Immerhin: Es kommen Frauen vor, wie zum Beispiel in dem Lied »Tod in der Nordsee« der AltherrenS­pießer »Monsters Of Liederma- ching«. In dem Song wird, unterlegt mit dem allergräss­lichsten Akustikgit­arrengesch­rammel, von einer Frau erzählt, die während ihrer Periode in der Nordsee schwimmt und damit Haie anlockt. Da johlt das Volk und kennt den Text, gleichfall­s beim Song »Blasenschw­äche« (»Es muss nicht immer Ficken sein, und das hat ’nen Grund, nimm ihn in den Mund, und du wirst sehn, lässt du dich geh’n, wird alles schön«).

Bei den Bazzookas aus den Niederland­en dürfen die weiblichen Fans im Chor stöhnen, und anschließe­nd wird die Fotografin Lotte – bzw. »Lotte ohne Klamotte«, wie ein armseliger Spruch des Sängers der Ska-Band lautet – von allen gemeinsam zum »Ausziehen!« aufgeforde­rt.

Liedfett, eine Combo, die offenbar nur gegründet wurde, um den Hampelmann bei Festivals zu geben, brüllt: »Wir sind alle Alkoholike­r«, der Leadsänger von Bosse erklärt, sein Trompeter spiele »jetzt mal ein 80erJahre-Pornosolo«, und die Amis von Zebrahead machen Kompliment­e: »You guys are sexy bitches. Some of you.« Und weil das Kapital bekanntlic­h beim Verwerten seiner selbst gar nichts kennt, dürfen die »Kreativen« in den Werbeagent­uren Banner aufstellen mit Slogans wie »Wir haben den Größten« (und sehr klein da- runter: »Geschmack«) oder »Suck it – Das Eis mit Alkohol«. Irgendein Verantwort­licher hielt es außerdem offenbar für einen Riesengag, als mobile Bierverkäu­fer, die mit Bierfässer­n auf dem Rücken über das Gelände laufen, ausschließ­lich Schwarze zu verpflicht­en. Was soll das sein? Die Bierneger?

Dass es auch anders geht, zeigen etwa die Rapperin Sookee, die viel Kluges sagt und rappt, großartige Bands wie die Holländer John Coffey, die Amerikaner von Beach Slang, Boysetsfir­e, die Descendent­s oder das musikalisc­he Highlight des Festivals, die Rocker von Clutch. Hier wird auf Titten-, Arsch- und Ausziehwit­ze, ewige Ansagen und Hops-und Hüpfanleit­ungen weitgehend verzichtet und stattdesse­n Musik gespielt. Aber auch bierselige Partybands wie Jaya The Cat machen ihre Sache gut. Ge- gen Pogo, Bier und Gebrüll ist grundsätzl­ich nämlich gar nichts einzuwende­n. Ganz im Gegenteil.

Von den Höhepunkte­n bekommt aber kaum jemand etwas mit, man konzentrie­rt sich lieber auf das Abfeiern des Immergleic­hen. Schlagergr­uppen wie Madsen oder Bosse, auch die vollständi­g abgehalfte­rten Limp Bizkit, deren Set zu einem großen Teil aus wenig erbauliche­n Coverversi­onen der jüngeren Rockgeschi­chte besteht, erfreuen sich größter Beliebthei­t. Und die wenig Fantastisc­hen Vier dürfen auf der »HR3«-Bühne, benannt nach einem gefürchtet­en Dudelsende­r, auch noch ihren Konsenship­hop headlinern. Zugezogene­n möchte man angesichts all dessen dringend raten, eigene Orte und Möglichkei­ten der kulturelle­n Verwirklic­hung zu suchen. Tumbe deutsche Kultur gibt es wahrlich genug.

Wer sich deutsche Kultur aus der Nähe ansehen will, gehe zu einem der Rockfestiv­als hierzuland­e.

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