Aleppo und der fehlende Vorschlag
Das Leiden Hunderttausender in der zweitgrößten Stadt Syriens geht weiter
Der Kampf um Aleppo sei »einer der zerstörerischsten Konflikte der Neuzeit«, sagt der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Und er geht weiter. »Niemand und nichts ist sicher. Ständig gibt es Beschuss, mit Häusern, Schulen und Krankenhäusern in der Schusslinie ... Das Ausmaß des Leidens ist immens«, sagte der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Peter Maurer, am Montag am Sitz der Organisation in Genf zur Situation in der syrischen Stadt. Das Rote Kreuz ist seit jeher neutral, bezieht daraus seine Autorität, obwohl es mit Sicherheit über Kenntnisse verfügt, wer internationale Regeln bricht, die es gerade für den Kriegsfall gibt.
Andere sind weniger zurückhaltend, beispielsweise die US-amerikanische nichtstaatliche Organisation Human Rights Watch. Sie hat den syrischen Regierungstruppen ebenso wie den zu deren Unterstützung agierenden russischen Kampfgeschwadern am Dienstag zum wiederholten Mal den Einsatz von Brandbomben vorgeworfen. Man habe Fotos und Videos, die dies belegten. Exakt nachweisbar ist das höchst selten. Diese Erkenntnis haben internationale Chemiewaffen-Inspekteure bereits 2013 machen müssen, als sie entsprechende Vorwürfe gegen syrische Truppen zu untersuchen hatten. Selbst wenn man nachweisen konnte, dass international geächtete Kampfstoffe an den angegebenen Orten freigesetzt worden seien, blieb immer noch die Frage ungeklärt, durch wen. Zwölf verletzte Zivilisten soll es nach Angaben der Opposition gegeben haben. Allerdings hat keiner von ihnen über einen der von Damaskus angebotenen Fluchtkorridore die Kampfzone verlassen. Der Nachweis steht also auch dafür noch aus.
Was die Fluchtkorridore betrifft, deren nur dreistündige Öffnung pro Tag von Bundesaußenminister FrankWalter Steinmeier am Montag gegenüber seinem russischen Kollegen beklagt wurde, hat die russische Seite wenig Zweifel gelassen, dass sie sich nicht hinters Licht führen lassen will. Man sei nicht gegen Hilfsaktionen – Deutschland hatte eine zeit- weilige Luftbrücke gefordert –, allerdings wolle man keine Hilfslieferungen an »Terroristen« zulassen. Mit Letzteren bezeichnet Damaskus wie Moskau die regierungsfeindlichen Milizen – und zwar alle: sowohl die »gemäßigten« Kräfte wie die vom Westen offiziell unterstützte Freie Syrische Armee als als auch »extremistische« Milizen. Allerdings kämpfen sie in Aleppo Seite an Seite. Das bestreitet man auch in Berlin nicht.
Wäre neben seiner völlig zurecht erfolgten Klage über die Not Hunderttausender Menschen in Aleppo nicht ein Vorschlag Steinmeiers interessant und sinnvoll gewesen, wie man Zivilisten helfen kann, ohne die Milizen zu begünstigen? Es hat diese Überlegung wohl nicht gegeben.
Eine Art Schienbeintritt aber hat Steinmeier auch von vielleicht unerwarteter Seite erfahren. Seine in konziliantem Ton gehaltene Beschwerde beim Kollegen Sergej Lawrow wurde noch am selben Tag von Steffen Seibert konterkariert: Russland dürfe sich »humanitären Mindestforderungen nicht verweigern«, so der deutsche Regierungssprecher wenig diplomatisch. Es ist wohl nicht zu viel spekuliert, hinter diesen Worten die Kanzlerin zu vermuten, die keinen Zweifel aufkommen lassen will, wer in Sachen Russland in Berlin die Tonlage vorgibt.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang das Schweigen der US-Politik. Obwohl sich Außenminister Kerry nach seinen eigenen Worten mit Lawrow auf Gemeinsamkeiten beim weiteren Vorgehen im Syrien-Konflikt geeinigt hat, lassen Schritte auf sich warten. Offenbar befürchten die Demokraten in Washington momentan, dass alles, was sie zu Syrien sagen, analog zu Amerikas Krimis gegen sie verwendet werden kann. Und zwar von Donald Trump, der offenbar auch beim Thema Syrien der bessere Populist zu sein scheint.
Die syrische Opposition meldete im Übrigen auch, dass bei den Luftangriffen auf »Rebellengebiete« Aleppos mehr als 30 Menschen ums Leben gekommen seien. Russische Kampfjets hätten »eine Versorgungsroute« der Regierungsgegner im Süden der umkämpften Großstadt bombardiert. Es spricht allerdings wenig dafür, dass diese Route tatsächlich noch existiert.