Stille Revolution im Gasmarkt
Der Einfluss von Gazprom ist in den letzten zehn Jahren deutlich gesunken
Noch vor zehn Jahren war der Gaspreis an den Ölpreis gebunden. Heute wird der Gaspreis meist am Spotmarkt bestimmt und der Einfluss von Gazprom schwindet. Der Gasverbrauch in der EU ist so niedrig wie zuletzt vor 20 Jahren. Und das wird wohl so bleiben: Billige Kohle, ein geringer Preis für CO2-Emmissionsrechte und immer mehr Strom aus Wind und Sonne machen einen deutlichen Anstieg unwahrscheinlich. Trotzdem werden die Gasimporte in den nächsten Jahren zunehmen, weil die Förderung in den Niederlanden und Großbritannien sinkt. Ein Teil des zusätzlichen Gases wird aus Aserbaidschan kommen. Mehrere Pipelines sind im Bau – vom Kaspischen Meer bis nach Süditalien. Das erste Gas soll so 2020 die EU erreichen.
Weitere Importe sind in Form von Flüssiggas (LNG) möglich. Vergangenes Jahr waren die europäischen Terminals nur zu einem Viertel ausgelastet, wie die International Gas Union (IGU) ermittelt hat. In den kommenden Jahren ist zudem mit einer Flüssiggasschwemme zu rechnen: Der Branchenverband erwartet, dass die Kapazität zur Verflüssigung von Erdgas in den nächsten vier Jahren um die Hälfte steigen wird. Besonders in Australien und den USA sind viele Terminals im Bau. Das drückt die Preise für alle Importeure. Die niedrigsten wird laut IGU aber Europa bezahlen: »Europas Rolle als Backstop für überschüssige Mengen wird voraussichtlich zunehmen, da andere Regionen nicht in der Lage sind, ihre Nachfrage so schnell zu steigern wie das Angebot erhöht wird.« Anders gesagt: Ein Flüssiggastanker, der keinen Käufer für seine Ladung findet, wird sie letztlich zum Schleuderpreis in Europa los. Dies sieht auch die Internationale Energieagentur (IEA) so: Wegen der flexiblen EU-Gasinfrastruktur und des liquiden Spotmarkts werde »ungewolltes« Gas in Europa landen.
Dort trifft es auf einen weitgehend reformierten Markt: Noch vor zehn Jahren war der Preis für knapp 80 Prozent der EU-Gasimporte an den Ölpreis gebunden. Heute sind es 30 Prozent. Daher wird der Preis nun weitgehend auf dem Spotmarkt ermittelt, wodurch LNG und Pipelinegas konkurrieren. Welchen Einfluss dieser Wettbewerb auf den Preis hat, zeigt das Beispiel Litauen: Nach der Inbetriebnahme eines Flüssiggasterminals in Klaipeda fiel der Preis für das Pipelinegas von Gazprom um ein Viertel.
Zudem haben die EU-Länder ihre Infrastruktur so umgebaut, dass Gas in beide Richtungen gepumpt werden kann. Tschechien hat sich gar zu einer Handelsdrehscheibe entwickelt mit einer Durchleitungskapazität, die den eigenen Verbrauch um das Achtfache übersteigt. Viele osteuropäische Länder können nun ihr Gas aus dem Westen importieren, Polen zu 90 Prozent aus Deutschland und Österreich. Außerdem geht in Świnoujście ein LNG-Terminal in Betrieb. Polen hat daher schon angekündigt, den Vertrag mit Gazprom nicht zu verlängern, wenn dieser 2022 ausläuft. Sogar die Ukraine ist weitgehend von Russland unabhängig geworden: Den letzten Winter überstand das Land, ohne Gas von Gazprom zu kaufen.
Auch wenn keiner mehr mit dem russischen Monopolisten Geschäfte machen will, hat Gazprom 2015 seine Exporte in die EU um acht Prozent erhöht. Die Kunden kaufen ihr Gas aber lieber indirekt – von deutschen Konzernen. Das ist billiger. In Tschechien und der Slowakei ist der Gaspreis so bereits auf deutsches Niveau gefallen und in den anderen osteuropäischen Ländern bewegt er sich in diese Richtung. Deutschland bekommt russisches Gas über die Nord-Stream-Pipeline durch die Ostsee. Deren Kapazität entspricht etwa einem Drittel der russischen Lieferungen nach Europa. Der Rest kommt über Pipelines durch Belarus und die Ukraine. Der Trick: Die Ukraine kauft das Gas nicht direkt von Gazprom, sondern schickt es virtuell nach Westeuropa, um es anschließend ebenso virtuell zu reimportieren. Ein tolles Geschäft, bei dem alle profitieren – außer Gazprom. Warum der Konzern dennoch die neue Nordstream-2-Pipeline nach Deutschland bauen will, ist ein Rätsel.