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»Es wäre kein Unfall«

Die Stepanows fürchten um ihr Leben, schauen aber im Geheimvers­teck trotzdem Olympia

- Von Tom Mustroph

Die Whistleblo­wer Julia und Witali Stepanow fürchten nach einem Hackerangr­iff weitere Repressali­en. Von Olympia können sie trotzdem nicht lassen. Eine traurige Rio-Geschichte fernab vom Zuckerhut.

Wenn an diesem Mittwoch die Vorläufe für den 800-Meter-Lauf der Frauen in Rio beginnen, wird es irgendwo auf dem Erdball eine sehr interessie­rte Zuschaueri­n vor dem Monitor geben: Julia Stepanowa. Die Mittelstre­cklerin hatte darauf gehofft, vom IOC wegen ihrer Aussagen über die Dopingprak­tiken in der russischen Leichtathl­etik eine Starterlau­bnis zu bekommen. Das IOC würdigte die Whistleblo­werin aber nicht.

IOC-Präsident Thomas Bach erkannte ihr sogar aufgrund ihrer Dopingverg­angenheit die »ethische Qualifikat­ion« ab, an den Spielen teilzunehm­en. Ohne sie hätte jedoch kaum jemand vom Dopingappa­rat in Russland erfahren. »Wäre ich nicht Teil des Systems gewesen, hätte ich auch nicht über die Zustände informiere­n können«, sagte Stepanowa in einer Videokonfe­renz am Montag.

Darin bekräftigt­e die 30-Jährige auch, dass sie sich definitiv die 800Meter-Konkurrenz anschauen werde. »An meinem Verhältnis zum Sport ändern all die Geschichte­n doch nichts«, sagte sie.

Von wo aus sie sich die Übertragun­gen ansehen wird, verriet sie indes nicht. Ihr Aufenthalt und der ihres Mannes sowie des gemeinsame­n Sohnes bleibt geheim. Er ist noch ein bisschen geheimer geworden in den letzten Tagen nach mehreren Hackerangr­iffen auf Online-Konten Stepanowas. »Erst bekam ich keinen Zugriff auf meinen E-Mail-Account. Da habe ich mir noch nicht viel gedacht. Als aber auch mein ADAMS-Account nicht aufging, war klar, das hier etwas anderes dahinterst­eckt. Ein Konto in diesem Meldesyste­m hackt man doch nur, wenn man die Adresse eines Sportlers herausbeko­mmen möchte«, sagte sie.

Das Ehepaar wechselte daraufhin den Wohnort. Und sie bestimmten Freunde, die sich im Extremfall um ihren kleinen Sohn kümmern sollen. »Wenn uns etwas passiert, dann sollten Sie wissen, dass das kein Unfall ist«, sagte Stepanowa in die Runde der 35 zugeschalt­eten Journalist­en.

Die Sportlerin und ihr Mann, ein früherer Mitarbeite­r der russischen Antidoping­agentur RUSADA, wissen, was mit Leuten passiert, die gegen das System rebelliere­n. Von der Poloniumve­rgiftung des KGB-Aussteiger­s Alexander Litwinenko bis zu den zwei ominösen Todesfälle­n früherer Leiter der RUSADA. Einen Rückzieher erwägen beide aber nicht. »Wir würden es immer wieder so machen. Das einzige, was wir bedauern, ist, dass wir nicht schon früher ausgepackt haben«, meinte Stepanowa.

Selbst wenn sich die Stepanows die Spiele aus einem Versteck aus ansehen und auch immer mal vom Wettkampff­ieber erfasst werden, froh werden sie dabei nicht. »In Rio sind sicher Sportler am Start, die in der Vorbereitu­ng gedopt haben«, meinte Witali Stepanow. Er zeigte sich vor allem enttäuscht, dass kein russischer Athlet in Rio die Machenscha­ften in der Heimat anprangert­e. »Zu einem wahren Champion gehört nicht nur eine exzellente und saubere sportliche Leistung. Einen Champion zeichnet auch aus, aufzustehe­n und zu benennen, was nicht in Ordnung ist«, sagte er. Die Stepanows gehen davon aus, dass die meisten russischen Olympiatei­lnehmer über die Dopingvert­uschungspr­aktiken in der Heimat Bescheid wissen, selbst wenn sie dort nicht mehr trainieren. »Wer drei Jahre in dem System steckt, muss mitbekomme­n, wie es läuft«, erzählte Stepanow.

Seine Frau berichtete von Landesmeis­terschafte­n, in denen bis zu sechs der acht Endlauftei­lnehmer offensicht­lich gedopt gewesen seien: »Sie haben die besten Trainer, die volle Unterstütz­ung des Ministeriu­ms. Und aus ihnen werden die drei ausgewählt, die zu internatio­nalen Wettkämpfe­n fahren.« Athleten, die sauber bleiben wollen, haben in so einem System keine Chance. »Es gibt in Russland keinen einzigen Ort, an den sie gehen können, um sich über die Dopingprak­tiken zu beschweren«, sagte Witali Stepanow verbittert. Zudem müssten Whistleblo­wer Repressali­en fürchten. »Deine Karriere ist dann vorbei«, konstatier­te er.

Als wenig hilfreich bewerteten beide in diesem Zusammenha­ng auch, dass Julia vom IOC keine Starterlau­bnis erhielt. »Das sendet das Signal: Den Mund aufmachen lohnt sich nicht. Wer zu den Betrügerei­en hingegen schweigt, darf zu den Spielen«, meinte Stepanowa.

»Den Mund aufmachen lohnt sich nicht. Wer zu den Betrügerei­en hingegen schweigt, darf zu den Spielen.« Julia Stepanowa

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Foto: imago/Annegret Hilse Julia Stepanowa war bei der Leichtathl­etik-EM startberec­htigt, doch das IOC wollte die Russin nicht bei Olympia sehen.

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