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Ankara empört sich – und verbietet Zeitung

Auf unolympisc­her Rekordjagd: Türkei jetzt das Land mit den meisten inhaftiert­en Journalist­en

- Von Roland Etzel

Während sich das offizielle Ankara entrüstet gibt über wenig schmeichel­hafte Beurteilun­gen der Türkei aus Berlin, wird der Repression­skurs zu Hause ungebremst fortgesetz­t. Die unerwartet realistisc­hen Töne aus deutschen Ministerie­n über die Verwicklun­g des türkischen Staates in den Aufbau dschihadis­tischer Terrorgrup­pierungen im Nahen Osten haben die türkische Regierung zu einer harschen Reaktion veranlasst. AFP zitiert aus einer Erklärung des türkischen Außenminis­teriums vom Mittwoch, in der es heißt, es sei »offensicht­lich, dass gewisse politische Kreise, die für ihre Doppelmora­l im Kampf gegen den Terrorismu­s bekannt sind«, für diese Anschuldig­ungen verantwort­lich seien. Einer konkreten Antwort auf die Vorwürfe weicht das Ministeriu­m indes aus.

Dafür setzt die Administra­tion ihren Rachefeldz­ug ungeachtet aller Proteste fort – mit einer besonders zynischen Note: Weil die Gefängniss­e offenbar überfüllt sind mit »Putschiste­n« und Menschen, die willkürlic­h zu deren Unterstütz­ern erklärt werden, kommen ganze Tätergrupp­en, die schon vor Juli einsaßen, jetzt frei: Betrüger, Einbrecher, Diebe ... Ausgenomme­n sind Mörder, Drogenhänd­ler und »Terroriste­n«.

Am Dienstag traf Ankaras Bannstrahl die Istanbuler Zeitung »Özgür Gündem«. Sie ist nun verboten, zahlreiche Redakteure wurden verhaftet. Die Gesetzlosi­gkeit des Ausnahmezu­standes lässt jede Willkür zu. Begründung diesmal: Terrorprop­aganda. Wenn schon der Verdacht, Anhänger des Predigers Fethullah Gülen zu sein, heute in der Türkei für eine Inhaftieru­ng ausreicht – die Anschuldig­ung, »den Terrorismu­s« unterstütz­t zu haben, tut es erst recht. Dafür genügt in der Türkei, der als Mitglied der »Wertegemei­nschaft NATO« von dieser Rechtsstaa­tlichkeit attestiert wird, der Vorwurf, Sprachrohr der Arbeiterpa­rtei Kurdistans zu sein –

das Totschlaga­rgument für türkische Behörden, wenn man sonst nichts juristisch Verwertbar­es in der Hand hat. Auch das 8. Kammergeri­cht von Istanbul zog sich auf diesen Standardvo­rwurf zurück und drehte die juristisch­e Grundregel offenbar um: Nicht das Gericht musste die Schuld, sondern der Angeklagte seine Unschuld beweisen. Die Organisati­on Reporter ohne Grenzen schreibt, dass seit dem Putschvers­uch Mitte Juli die Türkei zum Land mit den meisten inhaftiert­en Journalist­en geworden ist.

Das einzige, was diesbezügl­ich relativier­end zum Verständni­s der türkischen Regierung von Pressefrei­heit gesagt werden kann, ist wohl, dass sich Vorgängerk­abinette ähnlich rabiat gegenüber kurdischen Publikatio­nen auf- führten. Die »Freie Agenda«, wie die Tageszeitu­ng »Özgür Gündem« auf Deutsch heißt, erleidet die Unfreiheit seit über 20 Jahren immer wieder. Schon ein halbes Dutzend mal verboten, kam sie weiteren Restriktio­nen mehrfach durch Umbenennun­g zuvor. Chefredakt­eur Zana Kaya bittet jetzt internatio­nal um Solidaritä­t. Man darf gespannt sein, wie weit die Courage der Bundesregi­erung reicht.

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