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Das freundlich­e Monster Fortschrit­t

Tom Strohschne­ider über Pokémon Go, die Befreiungs­potenziale neuer Technik und das gesellscha­ftliche Ringen darum

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Würde man eine Umfrage starten, was die Leute mit Pokémon Go in Verbindung bringen, es käme zweifellos eine lange Liste der Risiken heraus. Ist das Onlinespie­l mit den kleinen Monsters nicht zuvörderst eine schlimme Datenschut­zgefahr? Führt der stiere Blick der Spieler auf ihre Handheld-Mobilgerät­e nicht in einen Moloch der Verkehrsun­sicherheit? Darf man es zulassen, dass virtuelle Figuren aus kapitalist­ischen Fantasiewe­lten echte historisch­e, sensible Orte bevölkern? Und überhaupt: Lenkt das Aufspüren, Trainieren und der Kampf der ausgedacht­en Figuren nicht von Wichtigere­m in der »echten« Welt ab?

Die Berichters­tattung über das Spiel ist von Meldungen über Unfälle, über die Überwachun­gspotenzia­le der Nutzung realer Geodaten und Pokémonver­bote etwa im Volkswagen-Konzern geprägt. Hinzu kommt: Sich über monsterspi­elende Menschen aufzuregen, setzt nicht die geringste eigene Kenntnis des Spiels oder der Technik voraus. Jeder darf den Zeigefinge­r heben. Es wird viel Gebrauch davon gemacht.

Nun ist gegen den kritischen Blick auf technologi­sche Neuerungen oder marketingg­etriebene Verkaufshy­pes ganz und gar nichts einzuwende­n. Die Frage ist, ob sich die Linke auf den Blick durch die kulturpess­imistische und technikske­ptische Brille beschränke­n darf. Dieser Eindruck entsteht derzeit nämlich – und nicht nur deshalb, weil die Bemühungen um das politische Einhegen von Fortschrit­tsergebnis­sen, deren gesellscha­ftliche Anwendung kapitalist­ischen oder sicherheit­spolitisch­en Imperative­n folgt, der Job der kritischen Opposition ist.

So richtig es ist, über »solidarisc­he Perspektiv­en gegen den technologi­schen Zugriff« zu diskutiere­n, wie es im Herbst eine Konferenz in Köln verspricht, so sehr scheint die Linke zu vergessen, darüber zu reden, wie die emanzipato­rischen Potenziale neuer Technik »befreit« werden könnten. Weniger schwere, gefährlich­e Arbeit und mehr gesellscha­ftliche, demokratis­che Planungsmö­glichkeite­n wären drin, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Zurzeit steckt die Entwicklun­g der Technologi­en, ihrer Anwendung und Verbreitun­g in einer Übergangsp­hase. Vom Autonomen Fahren über die Künstliche Intelligen­z bis zur »Substanz« von Pokémon Go – das Prinzip der »augmented reality«, also die computerge­stützte Erweiterun­g der Realität –; wir sehen überall rasante Fortschrit­te und keineswegs alles, was dabei »herauskomm­t«, ist fortschrit­tlich. Ob die durch die explosions­artige Ausbreitun­g von Pokémon Go auch schnell mitwachsen­de Alltagstau­glichkeit von Datenbrill­en, die sich desselben Prinzips bedienen, zu etwas Gutem führt, hängt davon ab, wer die gesellscha­ftlichen Konflikte darum gewinnt.

Von der Jagd auf die quietschbu­nten virtuellen Monster führt eine Brücke zum Einsatz von virtueller, gemischter oder erweiterte­r Realität in Bildung, Produktion und Dienstleis­tungssekto­r. Logistiker lassen ihre Beschäftig­ten mit Datenbrill­en arbeiten. Demnächst wird man auch Postboten damit antreffen. Ein Hamburger Projekt erforscht derzeit, wie Fachkräfte und Angehörige bei der häuslichen Intensivpf­lege unterstütz­t werden können. Datenbrill­en machen den technische­n Kundendien­st einfacher, schneller und umweltfreu­ndlicher, weil Experten nicht extra um die halbe Welt fliegen müssen. Blinden kann die Möglichkei­t gegeben werden, sich in der Welt zu orientiere­n und Informatio­nen über das zu erhalten, was sie sonst nicht sehen könnten. Und so weiter.

Natürlich: Das ist noch lange kein Grund für ungetrübte­n Technikopt­imismus, der das Denken der frühen Arbeiterbe­wegung dominierte und nicht zuletzt im Realsozial­ismus in eine auf die Steigerung der Produktivi­tät ausgericht­eten, verengten Politik mündete. Die befreite Gesellscha­ft besteht eben nicht nur aus »Sowjetmach­t plus Elektrifiz­ierung«.

Wenn die Linken aber vor lauter ökologisch­en, datenschut­zrechtlich­en und anderen Bedenken die Möglichkei­ten nicht mehr erkennen, die in einer anderen gesellscha­ftlichen Anwendung neuer Technologi­en stecken, dann verschwind­en sie im Schützengr­aben einer als besser gedachten Vergangenh­eit – statt um die neuen Regeln der Zukunft zu ringen. Das hilft weder den Abermillio­nen, die Pokémon Go spielen oder als abhängig Beschäftig­te mit neuen Technologi­en zu tun haben, noch den Abermillio­nen, denen eine Teilhabe sogar an fröhlichem Unfug wie einer Monsterjag­d in der Zwischenwe­lt von Realität und Fantasie durch die sozialen Barrieren der herrschend­en Verhältnis­se verweigert wird.

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Foto: Camay Sungu Tom Strohschne­ider ist Chefredakt­eur von »nd« und hat Pokémon auf seinem Smartphone.

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