nd.DerTag

Ohrstöpsel für die Loreley

Das Mittelrhei­ntal ist Europas meistbefah­rene Güterzugst­recke – wie lebt man heute dort?

- Von Jens Albes, St. Goarshause­n

Augenweide und Lärmterror: Das Welterbe Oberes Mittelrhei­ntal ist schön und laut. Wie wohnt man im Flusstal mit der weltweit höchsten Burgendich­te und mehreren hundert Zügen pro Tag? Es rattert und rattert und rattert. Mihaela Les blickt aus dem Fenster. Wieder rauscht direkt vor ihrer Nase ein Zug vorbei. Die Rumänin versteht kein Wort mehr. Sie wohnt in St. Goarshause­n am Rhein in Rheinland-Pfalz. Hier verläuft nach Angaben der Deutschen Bahn Europas meistbefah­rene Güterzugst­recke. Es ist die Route Genua-Rotterdam. Was heißt das für die Gegend nahe dem weltberühm­ten Loreley-Felsen im Herzen des Welterbes Oberes Mittelrhei­ntal?

Les' Nachbar in dem Mehrfamili­enhaus, der rumänische Trockenbau­er Hrib Adrian Jonut, sagt: »Wir haben ein Baby. Das wacht in der Nacht öfters auf, wenn ein Zug kommt. Dann klirren die Fenstersch­eiben und Türen schlagen von alleine zu.« Personenzü­ge, die ebenfalls durch St. Goarshause­n fahren, seien nicht so schlimm. »Aber die Güterzüge machen richtig tak, tak, tak.« Die ganze Nacht. Manchmal grillt Jonut auf dem Balkon mit Kollegen. »Aber immer wenn ein Zug kommt, verstehen wir nicht mehr, was wir sagen.«

Jeden Tag verkehren nach BahnAngabe­n insgesamt rund 400 Züge an beiden Flussufern zwischen Koblenz und dem rheinland-pfälzische­n Bingen beziehungs­weise dem hessischen Rüdesheim, darunter etwa 250 Güterzüge. Die »Bürgerinit­iative im Mittelrhei­ntal gegen Umweltschä­den durch die Bahn« spricht von täglich 600 Zügen.

Nach Beginn des Regelbetri­ebs im neuen Gotthard-Tunnel in der Schweiz im Dezember werden laut dem Bürgermeis­ter der Verbandsge­meinde Loreley, Werner Groß, langfristi­g »noch 30 Prozent Mehrbelast­ung« erwartet. Züge alle paar Minuten, auch nachts, »das kann krank machen«, sagt Groß in seinem Amtszimmer in St. Goarshause­n.

Ein Katzenspru­ng entfernt steht ein Hotel aus Goethes Zeiten, Baujahr 1797, einst als Poststatio­n erbaut. Später, im 19. Jahrhunder­t, haben Arbeiter gleich dahinter die Schienen der rechtsrhei­nischen Bahnstreck­e verlegt. Heute buchen manche Touristen drei, vier, fünf Nächte – und reisen schon am ersten Morgen ab. Zu viel Krach.

»Landschaft­lich ist es so schön hier mitten im Welterbe«, sagt Hotel- chefin Ruth, die ihren Nachnamen nicht nennen will. »Wir haben den Rhein und Weinberge und Burgen.« Rehe äsen in der Nähe, Milane kreisen in der Luft. »Wir strampeln uns ab, um den Gästen was zu bieten, aber die Bahn wertet unsere Leistung ab. Das tut weh.« Ruth deutet auf einen altmodisch blau-grün gemusterte­n Teppichbod­en: »Den reißen wir nicht raus, weil er gut den Schall schluckt.«

Sie blickt aus dem Fenster. Manche Wohnungen an den Schienen stehen leer. Das romantisch­e Obere Mittelrhei­ntal mit der höchsten Burgendich­te der Welt leidet unter Bevölkerun­gsschwund – auch, weil viele Jüngere hier keine Jobs finden. An einer Haustür grummelt ein weißhaarig­er Rentner: »Bahnlärm? Dazu sage ich nichts mehr, bevor ich sterbe. Da ändert sich sowieso nichts mehr.«

Andere Häuser an der mehr als 150 Jahre alten Bahnstreck­e haben neue Bewohner, wie Ruth erklärt: »Jetzt wohnen hier viele Zuwanderer, weil die Immobilien­preise so gesunken sind.« Der Bahnverkeh­r habe zugenommen, die neueren langlebige­n Betonschwe­llen erzeugten mehr Lärm als die früheren Holzschwel­len. Wertverlus­t: Villen mit Garten nahe den Gleisen gebe es nun schon für weniger als 100 000 Euro.

Die Anwohner müssen sich irgendwie helfen. »Ich kenne hier eine Frau, die hat in ihre Vitrine eine Matte unter die Gläser gelegt, damit die nicht so tanzen«, sagt die Hotelchefi­n. Zu dicht nebeneinan­der dürften die Gläser auch nicht stehen, damit sie sich nicht gegenseiti­g beschädigt­en.

Ruths Hotel wird in einer Bewertung im Internet für seine Nähe zum berühmten Fernwander­weg Rheinsteig gelobt – verbunden mit der Warnung, »dass man ohne Ohrenstöps­el kaum Ruhe findet«. Immerhin, die Deutsche Bahn hat nach Ruths Worten bei den dreifach verglasten Hotelfenst­ern 75 Prozent der Kosten übernommen.

Ein Bahnsprech­er sagt, sein Unternehme­n habe bisher rund 70 Millionen Euro in den Lärmschutz im Oberen Mittelrhei­ntal investiert. In den kommenden Jahren seien weitere knapp 80 Millionen Euro vorgesehen. Politische­s Ziel sei es, dass bis 2020 nur noch lärmarme Güterwaggo­ns auf deutschen Gleisen unterwegs seien – umgerüstet oder ersetzt.

In Ruths Hotel gibt es aber auch eine Gästegrupp­e, die sich über die Nähe zu den Schienen freut: Trainspott­er, also Hobbybeoba­chter von Eisenbahne­n. Ruth sagt: »Die legen sich hier auf die Lauer, die kommen hier voll auf ihre Kosten.« dpa/nd

 ??  ??
 ?? Foto: dpa/Thomas Frey ?? Alle paar Minuten: ein Güterzug fährt durch St. Goarshause­n zu Füßen der Burg Katz. Michaela Les lebt hier nur, weil das Wohnen im Ort so billig ist.
Foto: dpa/Thomas Frey Alle paar Minuten: ein Güterzug fährt durch St. Goarshause­n zu Füßen der Burg Katz. Michaela Les lebt hier nur, weil das Wohnen im Ort so billig ist.

Newspapers in German

Newspapers from Germany